Elitenschelte

Jetzt also geht es den Eliten an den Kragen! Das ist der Schlachtruf, der quer über den Kontinent gellt, von Polen über Ungarn, Österreich, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und England bis nach Italien. Und von jenseits des Atlantiks bellt es noch schriller. Ausgemistet werde der Stall in Washington, es bleibe kein Stein mehr auf dem anderen.

Früher, als ich noch jung und links war, hatte ich manchmal davon geträumt: Abgerechnet werde mit ihnen, die uns immer so gegängelt hatten all die Jahre. Die sich stets für etwas Besseres gehalten hatten, die Wirtschaftskapitäne und ihre Anwälte und Berater, die Lobbyisten, die grauen Eminenzen auf ihren rotierenden Posten, alle diejenigen also, die stets nur bergauf gefallen sind. – Ja früher, da gingen die Uhren noch anders. Da waren das Gute und das Schlechte noch deutlich voneinander geschieden, jedenfalls schien es so. Vielleicht aber war auch schon damals alles miteinander vermengt, nur hatte ich es einfach nicht wahrhaben wollen. Ich saß im philosophischen Seminar, da verliefen die Linien gerader, wenn auch die Texte mitunter recht harzig waren.

Jetzt also geht es den Eliten an den Kragen. Und ich wundere mich: Der Begriff der Elite muss sich in den letzten Jahren verändert haben. Fast unbemerkt kam das so. Früher, und das ist gerade gestern erst gewesen, da fühlte ich mich aufgehoben in der kulturellen Hegemonie eines Liberalismus mit seinen Trümpfen Freiheit und Weltoffenheit, Zivilgesellschaft mit ökologischem Bewusstsein, liberaler Lebensstil mit der Anerkennung jedweder Orientierung, Multikulti und so vielen, vielen Assen mehr. Das alles steht nun plötzlich zur Disposition, wenn man den Elitenjägern Glauben schenken darf. Und hoppla – ich gehöre ebenfalls zur Elite? Wie kam das? Was habe ich da nicht mitbekommen?

Es heißt, wir hätten zu wenig auf sie gehört. Selbstherrlich hätten wir die Redaktionsbüros besetzt, die Schulen und Universitäten, die Gerichte, die Parteien sowieso. Hätten uns die Taschen dabei vollgestopft. Hätten die Ungerechtigkeit grassieren lassen. Hätten das Volk ent-deutscht. Wir also, – wer ist dieses Wir? Es sieht immer etwas anders aus, dieses Wir. Mal sind es die Städter, dann wieder sind es die jüngeren Jahrgänge, dann aber auch die »versifften 68er«, die Gutmenschen sowieso, die sich für die Migranten erwärmen. Die Globalisierungsgewinnler, die gut Ausgebildeten, die Intellektuellen, die Wortstärkeren und alle anderen, die auf der Sonnenseite segeln. Da sind viele Farben angerührt im Topf des Wir. Ja, selbst so ein Habenichts wie ich, der ist dabei. Ja, ich fahre kein Taxi nach einem volkswirtschaftlich aussichtslosem Studium, und ja: Ich lebe in einer Tonne mit gehobener Ausstattung. In der Stadt. Na also, sagten wir’s nicht?

Schuster, bleib bei deinen Leisten. Nehm‘ ich mir zu Herzen und also: Ich möchte verstehen. Das ist das Brot des Philosophierenden. Ich möchte verstehen, was abgeht da draußen. In den sozialen Netzwerken. Was es bedeutet, dass die Informationsgesellschaft sich immer weniger aus den schwindenden Auflagen der Zeitungen nährt, sondern zu facebook und twitter exiliert, zu breitbart, google plus und all den anderen Portalen, die denen, die unzufrieden sind mit ihrem Leben, eine Plattform für ihren Frust bieten, den sie dann nicht persönlich zu zeichnen wagen. Ich möchte begreifen, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn jeder zu einem medialen Sender werden kann, vielleicht gar unter Zuhilfenahme von meinungspotenzierenden bots, die sogar demokratische Wahlen manipulieren. Ich möchte die Macht der Emotionen verstehen, angerührt, um abgerufen zu werden für den Aufstand gegen die Eliten. Die atemberaubende Erosion der Tatsachen und den fulminanten Aufstieg von Unterstellung und Gerücht. Das Geschäft mit den fake news. Die neuen Linien, entlang derer eine tribalisierte Gesellschaft sich formiert. Das aufgeheizte Empörungspotenzial, mit dem Minderheiten sich moralisierend zu Mehrheiten zusammenwürfeln. Dies alles und noch viel mehr möchte ich verstehen lernen, um mich gesellschaftlich neu zu justieren in stürmischer Zeit, um zu erfassen, wo und wie ich heute noch besonnen über die Güter unserer Kultur philosophieren kann, um deren Werte zu würdigen und ihnen Zukunft zu geben für das Kommende, über Kunst und Wissenschaft also, über Weltanschauungen und Identitätsbildungen. Still für mich oder im Kreis einer – darf ich sagen? – Elite, die einfach nicht davon ablassen möchte, gemeinsam über das gute Leben nachzudenken. Und dann – möchte ich natürlich dabei auch erörtern, wie sich wehren gegen die Parolen, die aufgestaute Wut und den Hass.

Aber dazu muss ich erst einmal verstehen lernen. Den guten Willen dazu habe ich, auch wenn ich – Elite bin. Oder gerade: weil.

16.12.2016

PETER VOLLBRECHT