Abschiede sind hochemotionale Momente. Sie ergreifen, weil sie eine gemeinsam erlebte Zeit auf einen einzigen Punkt verdichten. Wir oder ich – und sie oder er, vorbei. In Abschieden schichten sich vergangene Geschichten auf, Gewonnenes zerrinnt oder bleibt aufbewahrt für die Erinnerung, und das Verpasste hinterlässt eine schmerzhafte Spur.
In weltentrückter Schönheit können sie strahlen, die Abschiede, wenn das Wort zurücktritt und einen musikalischen Raum öffnet für Gesten, Gesicht und unerfüllte Träume. Dann wiederum gibt es die wortstarken Abtritte, in denen ein großes Wir geboren wird, das es vorher vielleicht gar nicht gegeben hat, vorher, als alles nur Kampf und Auseinandersetzung war.
In seiner Farewell Speech in Chicago hat der scheidende Präsident Barack Obama einen solchen Moment geschaffen, als er sich auf den amerikanischen Gründermythos berufend seinen Abschied nahm. Staatsmännisch, elegisch, und dann und wann, während einer Redepause, blitzte es auf, still boyish, bei 55 Lebensjahren. Obama ist nicht nur ein großer Redner, er ist ein Magier des politischen Augenblicks, ein Zauberkünstler, der die Zuhörer im Sturm zu nehmen vermag. Langsam intonierend, der Wirkung seiner Worte nachhängend, rhetorische Höhepunkte auskostend und immer wieder vom ekstatischen Publikum beschrien, setzte er seine Botschaften, eine nach der anderen, sie weiteten sich zum Teppich der großen amerikanischen Erzählung.
Wer die Rede gesehen hat, wer sich hat mitreißen lassen, wer für fünfzig Minuten darüber hat hinwegsehen können, dass hier eine gigantische mediale Inszenierung den Dingen eine andere Konturierung gegeben hat, als sie in Wirklichkeit haben mögen, kurzum: Wer wie ich sich hat verzaubern lassen können, wer dann, in einem zweiten Schritt, den Motiven seiner eigenen Berückung nachstellt, der begreift, weshalb sich das soziale Wir nach solchen Momenten und solchen charismatischen Persönlichkeiten sehnt. Sie verkörpern glaubhaft mit ihren erzählerischen wie rhetorischen Talenten die Mitte der Gesellschaft, – nicht im soziologischen Sinne, nein, darauf kommt es in den politischen magischen Augenblicken gar nicht an, hier geht es um die Mitte einer zivilisatorischen und kulturellen Identität. Mit seinem Yes, we can betrat Obama vor acht Jahren die politische Bühne, mit einem Yes, we can, yes, we did trat er ab. Politisch vielleicht an nicht unwichtigen Fronten verstolpert – Drohnenkrieg und zahnlose Syrien-Politik – , aber gelungen im Persönlichkeitsbild, im Menschenbild sogar, steht es doch für Aufbruch, jugendlichen Enthusiasmus und Zukunft, umgürtet und umhegt von einer Tradition, der es seit den Gründertagen um ein besseres Leben gegangen war. Das mag eine Fiktion sein, wenn man sie an die amerikanischen Kriege hält, an Vietnam, an den Irak, an Afghanistan und die vielen Schauplätze in den ›amerikanischen Hinterhöfen‹ Mittelamerikas, ganz zu schweigen von der aggressiven Politik amerikanischer Konzerne. Aber: Es ist eine starke Fiktion, die das alles unbeschadet überstanden hat. Obamas Abschiedsrede war auch eine Hymne an die Widerstandskraft der Kultur gegenüber der Politik. Mit ihr hat er seinem Nachfolger einen kulturellen Standard gesetzt.
An historischen Herausforderungen, so sagt man gern, wachsen große Persönlichkeiten. Wer müsste kommen, um Europa zu einen? Die große Erzählung dazu liegt in Blaupause auf dem Tisch. Sie erstreckt sich über die zehnfache Länge der 240 Jahre, die seit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vergangen sind, sie datiert zurück auf den Sieg der Athener über die Perser. Europa hat wie kein anderer Kontinent das Gesicht der Welt geprägt, im Guten wie im Schlechten. Seine Demokratien sind heute die gefestigten in der Welt, seine Bürger haben eine politische Reife wie nirgends sonst. Und doch ist der Kontinent gespalten entlang historischer Linien, zwischen Stadt und Land, Jungen und Alten, wohlhabend Saturierten und abgehängten Globalisierungsverlierern. Wo sind die politischen Kräfte, die die Gräben überwinden, die integrierend wirken über soziale und nationale Grenzen hinweg? An einer umspannenden Fiktion fehlt es nicht. Seit der Renaissance, spätestens seit der Aufklärung weben die kulturellen Akteure in Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft an einer europäischen Identität. Gegründet und flankiert von einer religiösen Idee, die zwar oft geschändet wurde von ihren Institutionen, die sich aber in mitunter geraden Linien mit den säkularen Kulturkräften verknüpft hat. Das Resultat: eine Zivilgesellschaft modernen, weltbürgerlichen Formats.
Sie müssten europäisch auftreten, die Obamas Europas, sie müssten das Beste verkörpern, das in Europas kultureller Mitte gewachsen ist. Amerikas Zauberformel, mit der die transatlantische Nation sich selbst berauscht und die sie der Welt übergeben möchte, sie lautet bekanntlich: life, liberty and pursuit of happiness. Sie ist eine zündende Formel, weil sie das Individuum hofiert und im selben Atemzug die gesellschaftlichen Mächte diszipliniert, so zumindest der Idee nach, die Realität mag anders aussehen. Welche Zauberformel hätte Europa zu geben? Sie müsste, wie die amerikanische, die jüngeren historischen Erfahrungen auf einen griffigen Nenner bringen und dabei auch die langen Wege Europas, jene zweieinhalbtausendjährige Erbschaft im Gepäck tragen. Vielleicht wäre es die Formel des angstfreien Lebens. Ein freies Leben in rechtstaatlicher Sicherheit. Ohne Leibeskontrollen beim Betreten eines Bahnhofs, eines Flughafens, eines Kinos oder von Großveranstaltungen. Ohne ängstliche Blicke über die Schulter beim nächtlichen Nachhauseweg. Diese gesicherte Freiheit veranlasst jedes Jahr Millionen von Chinesen, Amerikanern, Indern und Bürgern anderer Nationen den Glanz europäischer Städte aufzusuchen. Freiheit in Sicherheit, in dieser Doppelformel steckt das Potenzial europäischer Zivilgesellschaften. Gewonnen durch den Blutzoll vergangener Generationen, die auf den europäischen Schlachtfeldern starben.
Wenn es, neben der alten Tradition Europas, eines modernen Gründungsmythos bedarf – dann dieses. Das angstfreie Leben. Das europäische pursuit of happiness. Es ist, zugegeben, durch die Negation etwas gebogener als die amerikanische Formel. Aber das angstfreie Leben wirft ein Echo im kulturellen Gedächtnis von Holocaust, Faschismus und kommunistischer Diktatur. Eine Formel der Hoffnung im Wirbel der weltweiten politischen und ökologischen Verheerungen.
Solange wir auf einen europäischen Obama warten müssen, ist es an uns, den Bürgern, an politischen Erzählungen zu stricken. Aber – tun das die Nationalisten, die Populisten und die Identitären nicht ebenso? Nein, denn große, bewegende, über die Zeiten wirkende Erzählungen sind stets integrativ und humanistisch, niemals aber kommen sie im kleinen, selbstischen, neidvollen Format daher. Und niemals, niemals spielen sie auf der Klaviatur der Ängste.
13.01.2017