Wer kennt sie nicht, die kurzen, wie aus dem Nichts aufsteigenden Bilder einer Erinnerung? Sie kommen stets als Einzelne, ihre Ränder unscharf, deutlich nur die Bildmitte. Kein Erzählfluss verleiht ihnen Bedeutung, indem er sie mit anderen Erinnerungsstücken verbindet, auch bebildern sie keinen Text, denn der ist zu lange schon verblasst in tiefer Vergangenheit, sie tauchen einfach auf und verschwinden ohne Spur.
Da ist nur dieses eine Bild, ein Bürgersteig im sonnigen Nachmittagslicht, in einer Kolorierung, wie die erwachsenen Augen sie nie wieder gesehen haben beim Warten auf die Ankunft des Interzonenbusses aus Berlin, mit der Großmutter auf Besuch. Oder, noch weiter zurückliegend: Ein tropischer Abend im brasilianischen Belém, ich sitze mit den Eltern und meinem Bruder im Garten einer befreundeten Dame, die zum Essen geladen hat, die deutsche Auslandsgemeinschaft ist zugegen, ich erspüre einen Zipfel der so schmerzlich vermissten Heimat.
Oft wollte ich sie halten, hineinschlüpfen in diese Wurmlöcher zu einer verschütteten Lebenszeit, um zu einem Lebensgefühl vorzustoßen, das sich mir unmerklich, Schritt um Schritt, entzogen haben muss im Kurs der vielen Jahre. Ich muss ein anderer geworden sein.
Meine Lebensgeschichte, an der ich erinnernd immer wieder stricke, suggeriert mir dagegen ein Kontinuum. Graduelle Übergänge nur, in denen ich stets derselbe geblieben bin. Doch nun, wo die Schemen der Vergangenheit auftauchen und mit einer Wucht ihren Platz im Fokus meiner Aufmerksamkeit beanspruchen, da spüre ich: damals muss alles ganz anders gewesen sein, als wie es mir mein narratives Bewusstsein stets vorspielt, wenn ich an seinem Erinnerungstext webe. So gäbe es denn zwei Vergangenheiten, die ich vergegenwärtige? Die, von der die geheimnisvollen singulären Bilder künden, die ich nicht kommandieren kann, die ungefragt einbrechen und die ich nicht näher aufzoomen kann – und die, von der ich als Autor meiner Erzählungen handele, die ich mir und anderen kommunizieren kann, die mir und nur mir gehören? Die eine betörend leuchtend, eine seltene und den Launen meines Gedächtnisses folgende Erscheinung, die andere sorgsam kultiviert in autobiographischer Rückblende. In der einen bestaune ich mich als denselben, weil mich seine Andersheit irritiert, er ist mir kaum mehr vertraut. Der zweite Erinnerungsstrahl sammelt, reiht aneinander und konstruiert eine Person, die ich mag, an der ich hänge, weil sie ich ist, die ich noch einmal begleite durch Höhen und Tiefen.
Die Erinnerung öffnet mir den philosophischen Blick auf zwei verschiedene Selbstverhältnisse. Das eine ist bildhafte Epiphanie eines Augenblicks, das andere eine flüssige Erzählung. Welcher ist mehr zu trauen? Welche ist die ‚wahrere‘? Gäbe es die erstere nicht, dann stellte sich die Frage nicht. Doch gerade weil mir in seltenen Momenten eine Vergangenheit aufblitzt, bin ich misstrauisch gegenüber der geglätteten Erzählung. Verändere ich in ihr nicht das authentische Material? Mit jedem Mal ein bisschen mehr? Bin ich als Autor meines Lebens nicht der große Manipulator, der seine Zensur ausübt über missliebige Erlebnisse? Ich solle ehrlich sein, authentisch auch, so mahnte mich ein Freund, und das gelinge nur, wenn ich zu den Schattenseiten meines Lebens stehe. Das ist wohl wahr – wer wollte das bezweifeln? Aber ich spüre: hier geht es noch um etwas ganz anderes. Um etwas Tieferes, Unaussprechlicheres, hier geht es um das Geheimnis ‚Ich‘. In den Händen einer hausbackenen Trivialpsychologie ist es schlecht aufgehoben. Doch – wie fasse ich es?
„Ein Selbst ist ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft“, lese ich in einem Essay des Berliner Philosophen Peter Bieri. „Ich bin derjenige, um den sich all meine Erzählungen der erlebten Vergangenheit drehen.“ So tönt das Hohelied des narrativen Selbst. Ich mag seinen Klang, weil darin das Selbst eine literarische Farbe gewinnt. Einen kühnen Schritt von bloßer Farbe zur Faszination an einer literarischen Lebenskunst macht Friedrich Nietzsche in einem kleinen Aphorismus in der Fröhlichen Wissenschaft: „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein.“ Ich – eine literarische Existenz? Die ihr Leben verzuckert? Und ich, der Autor, ausgestattet mit allen literarischen Freiheiten dazu? Man weiß ja, wohin dies Friedrich Nietzsche führte: in die literarische Einsamkeit. In dicke Tinte, in satt aufgetragene Überheblichkeit, in die philosophische Maske. Ein roher Kutscher und ein geschundenes Pferd hatten Nietzsche ebendiese philosophische Maske vom Gesicht gerissen, als Nietzsche, der bekennende Gegner des Mitleids, in Tränen ausbrach und auf der Piazza Carlo Alberti in Turin der geschundenen Kreatur zu Hilfe eilte und alsdann im Wahnsinn verdämmerte. Wie wenig er sich doch kannte! Seine seelischen Realitäten hatten ihn eingeholt an jenem berühmten 3. Januar des Jahres 1890.
Doch das alles ist nur ein lebenskluger Einwand, der einseitig Maß nimmt an Nietzsches Schicksal. Der Kern der Frage, wer das Ich in meinen Erinnerungen ist, bleibt davon unberührt. Jener dunklen anderen Ordnung meines Selbst hat von allen philosophischen Autoren, die ich kenne, nur Henri Bergson Aufmerksamkeit geschenkt. Im intimsten Innenraum der Subjektivität, so meint er, pulsiert eine andere Zeit. In ihr folgen die Ereignisse nicht aufeinander wie in der physikalischen Zeitreihe oder wie in der erzählten Zeit, sondern sie bilden einen Klang. Ja, es ist dieser Klang, den ich erlebe, wenn mir die entfernten Erlebnisse kommen wie kurze Traumgesichte, von denen ich doch weiß, dass sie wirklich waren. Damals lagen sie ausgestreckt vor mir und um mich herum, ich in ihrer Mitte, eine weite Landschaft von Welt-Erleben eines jungen, mir heute entschwundenen Ichs und einer ebenso verblichenen Welt. Geblieben ist mir in berückenden Augenblicken jener Klang, der jenseits gliedernder Sprache tönt.
Wir wollen die Dichter unseres Lebens sein? Nun, Dichter weben solche Klänge, die als Seelenbilder aufsteigen, zu Text. Sie tragen nicht auf, sondern ein. In uns. Und großen Texten gelingt es, Klänge in uns hörbar werden zu lassen, Klänge, die irgendwie verschweben in literarischen und eigenen Stimmen. Dort, wenn irgendwo, verbirgt sich das Ich meiner Erinnerungen.
03.02.2017
PETER VOLLBRECHT