Ja, es gibt sie, sie werden immer wieder nachgeboren, sie sterben nicht aus: die Pessimisten. Sie sind die Pannenbuchhalter des Weltbetriebes. Penibel und humorlos listen sie die Skandale auf, halten die Erinnerungen an Seilschaften wach, sie summieren Fakt um Fakt. Ziehen dann große Zusammenhänge und schwärzen schließlich alles ein. Lustvoll geben sie sich der Hoffnungslosigkeit hin, mal heroischer und mal serviler, je nach Temperament.
Kürzlich bekamen sie hier auf unserem Portal eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Die Gallige Polemik öffnete uns den Blick in das Seelenleben eines verbitterten, vielleicht aber auch nur traurigen Menschen. Woher die Wut, die so einschlägt auf die kleinen Fluchten ins Glück? Auf die gebrechliche Burg des Privaten? Woher die Düsternis der Bilder, in denen der Autor lebt? Alles, was wir leben, ist das nur falsch? Verblendet, manipuliert, wir – die Marionetten? Und woher die Lust am Scheitern? Kann sie wirklich ernst gemeint sein?
Die Welt hat sich fünfzig Jahre weitergedreht, fünfzig Jahre sind vergangen, als damals die Autoren des linken Pessimismus die Kulturhegemonie in Deutschland innehatten. Ihnen, den Adornos, Marcuses und Horkheimers steckte der Schock des deutschen Faschismus tief in den Knochen, sie ließen die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nur um Auschwitz kreisen. Jetzt aber stehen wir woanders, und das, bitte, ein Hallo an den pessimistischen Autor des Machwerkes: Aufwachen! Wir schreiben jetzt die Generationen Y und Z! Das sind die Nummern drei und vier derjenigen Altersgruppen, die auf ein kriegsfreies Leben zurückblicken. Mehr als siebzig Jahre Frieden in Europa! Früher kettete sich jede Generation kriegstraumatisiert aneinander, auch der Autor der Galligen Polemik, auch er ist noch so ein psychotisches Nachkriegsopfer.
Doch jetzt, heute, bindet uns ein gemeinsamer Pazifismus, ein Europäertum. Und dieser Europäer – ein Ideal von uns – spricht mehrere Sprachen, ist tolerant, ist fair im Urteil, kooperativ und verlässlich, gebildet und republikanisch im besten Sinne. Republikanisch nicht in der amerikanisch-degenerierten Variante, wo die res publica in Selbstdarstellungswahn und engstirniger Destruktionspolitik aufgerieben wird. Europa kommt eher auf leiseren Sohlen daher, weniger pompös und militaristisch, dafür aber mit Kantischem Weltbürgertum. Und vor allem: universalrechtlich in Straßburg und Den Haag. Europa ist das forum mundi und verhandelt das Recht vor der Weltzivilisation. Das, was dort für ›richtig‹ und ›falsch‹ beurteilt wird – zählt das nicht viel mehr als das verschrobene Es kann kein richtiges Leben geben im Falschen? Wenn sich an diesem krummen Satz eine junge Generation einst berauscht hat, dann kann darin keine Wahrheit liegen. Überdies riecht er muffig nach Altlinkentümelei. O ja, sie hatten einmal eine Wucht, diese Ermahnungen in Moll, weil sie die Nachkriegsbürger in ihrem Schuldempfinden trafen. Heute aber können wir ihnen heute nicht mehr diese Aura abgewinnen. Denn über die Dauer eines halben Jahrhunderts ist eine neue Zivilisation entstanden: die Europäische Union.
Europa – das ist die Antwort auf die Gallige Polemik. Ein einziges Wort als Entgegnung. Es waren immer Einzelworte, die Geschichte machten. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, pursuit of happiness. Europa setzt ein weiteres Wort hinzu: den Frieden. Der Wille zum Frieden festigte sich über die Dauer von einem halben Jahrhundert in einer beispiellosen europäischen Begegnungskultur. Was wäre, wenn Europa mit seinem Willen zum Frieden offensiver aufträte auf dem diplomatischen Parkett? Wenn es sich so bescheiden wie entschieden als Zukunftsmodell anböte und selbstbewusst seine Werte einbrächte, sich nicht länger unter Wert verkaufte? Wenn Europa seine weiche, weil supranationale Identität zu einem neuen politischen Stil ausbildete: könnte Europa das amerikanische Zeitalter ablösen? Das Ende der pax americana und der Beginn der pax europeana? Die völkerrechtlichen Gerichtshöfe haben heute schon ihre Quartiere in Europa bezogen. Die großen internationalen NGO’s wie Greenpeace, Amnesty International, Médecins sans Frontiers oder Attac sind allesamt im Europa ansässig. Und derzeit findet gerade die proeuropäische Jugend jeden Sonntag ihre Stimme und demonstriert in deutschen und französischen Städten unter dem Emblem Pulse of Europe gegen den Rückfall in Nationalismen. Setzt Hoffnungen gegen Ängste und Verständigung gegen Ausgrenzung. Die Zivilgesellschaft ist in Europa zuhause – die paralysierte Exekutive der Weltzivilisationen dagegen, die Vereinten Nationen, residiert in New York. Noch weitere Fragen, Herr Galliger Polemiker?
Setzen wir Visionen gegen den Pessimismus! Träumen wir also von einem Europa, das seine Immunabwehr gegen die regionalen Egoismen gestärkt hat. Die lauten Populisten werden dann nur eine kurze Episode im zweiten Jahrzehnt gewesen sein. Mit seinem gesellschaftlich warmen Klima ist es der Welt ein Sehnsuchtsort geworden. Es denkt und handelt kosmopolitisch und investiert seine wirtschaftliche und kulturelle Stärke in die Zukunftsprojekte der Menschheit. Aus der Vielstimmigkeit seiner Traditionen, aber auch aus dem frischen Blut der Migranten erneuert es sich beständig. Die Literatur beleben bilinguale Autoren mit neuem erzählerischem Schwung, die Konzerthäuser experimentieren mit den Klängen der Welt. Europa hat mit Länderpatenschaften die afrikanischen failed states aus dem Würgegriff von Oligarchien und Milizen befreit: Deutschland für Mali, Italien für Somalia, Frankreich für Mauretanien. Hat das Potenzial der unterdrückten Frauen dort freigesetzt, ökonomisch wie kulturell. Hat visionär seine technologische Kreativität auf die Reparatur unseres Planeten verwandt, hat die Plastikstrudel in den Ozeanen abgemäht, hat ein innovatives Wassermanagement erfunden. Die Liste ließe sich fortsetzen, jeder einzelne Posten ein Anreiz für Startups und Gemeinsinn.
Es wäre ein Europa, das nach Renaissance und Aufklärung seine nächste Achsenzeit aufbereitet. In ihr dreht sich alles um die gesamte Menschheit, um ihr zivilisatorisches Selbstvertrauen, das verloren gegangen war in Großmachtpolitik und Finanzkapitalismus. Europa – das ist ein Synonym für das Vertrauen in das Leben auf der Grundlage planetarischer Solidarität.
Selbst wenn davon nur ein Bruchteil in näherer Zukunft ankäme: Für ein solches Europa lohnt es sich, zu leben!
24.03.2017
PETER VOLLBRECHT