Neulich streifte ich mal wieder durch eine Bahnhofsbuchhandlung. Wie immer, wenn mein Zug Verspätung hat, und das geschieht zum Glück häufig. Was müssen die Menschen doch unglücklich sein, dachte ich angesichts der dort gestapelten Glücksratgeber, unter denen sich die Tische bogen. Die Regeln des Glücks liegen dort auf, mit dem Glück, das bleibt, gelingen Beziehungen besser, das Yoga-Glück sucht seine Inspirierten. Welch‘ reißender Absatz! Man kauft ja, wessen man bedarf. Kein Glücklicher wird da blättern, kein Erfolgreicher, der nach einer Anleitung zum positiven Denken greift. Die Büchertische verkünden: Wir leben in einem Jammertal psychischen Elends.
Meine Generation ist mit einem Adorno-Wort sozialisiert worden: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Ein erfrischender Pessimismus wehte durch die siebziger Jahre. Man konnte geradezu heimisch werden in ihm! Mit Adornos grauer Minima Moralia unter dem Arm zogen wir gegen die Glücksritter zu Felde. Wir? Nein, das waren natürlich nicht alle meiner Generation. Wir – das war die Elite! Und die Elite, sie durchschaute das perfide Spiel der Macht. Wir stopften uns das Hirn voll mit dem neomarxistischen Jargon jener Jahre, wir waren die erbitterten Gegner des falschen Bewusstseins. Wir wussten, dass – auch eine beliebte Vokabel von Damals – ein totalitärer Verblendungszusammenhang sich wie ein sphärischer Himmel über uns gespannt hatte. Und wir wussten auch, dass wir dem nicht entkommen konnten, dass wir mitten drin steckten im Falschen. Die anderen meiner Generation, die Jura-, Medizin-, Theologie- und BWL-Studenten, die wussten das natürlich nicht. Dachten wir damals. Die fuhren fröhlich in die Wochenenden, lebten ihre stabilen Beziehungen außerhalb der anstrengenden Geschlechterdiskurse und bereiteten sich auf ihre gesellschaftlichen Positionen vor. Wir und sie, das waren zwei verschiedene Kulturen, und wir wollten mit der ihrigen nichts zu tun haben. Wir pflegten unsere Utopien, die wir ganz weit hinaus warfen in die Konjunktive des Lebens: in die herrschaftsfreie Gesellschaft, in die Anarchie oder in ein lebensnahes Projekt südeuropäischen Aussteigerdaseins. Aber noch saßen wir in den Hörsälen, Bafög-versorgt oder von Papa gesponsert, und beteten unsere Heldenidole an, all die Gescheiterten im falschen Leben. Ja, wir hatten unsere Helden in der Literatur. Hölderlin, Lord Byron, Sören Kierkegaard, Franz Kafka, Fernando Pessoa, Samuel Beckett. Sie alle waren Gescheiterte und wenn nicht, so schrieben sie über Gescheitertes und standen aufrecht zu einer Literatur, in der nur noch Fragmentarisches etwas zählte. Und dann natürlich das Wiener Sprachrohr des schwarzen Humors: Thomas Bernhard. Keiner konnte die Litaneien des Scheiterns zu Bach’schen Fugen fügen wie er: Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.
Irgendwann, spätestens mit den Examensvorbereitungen, franste das Wir dann deutlich aus. Wir wurden einfach weniger, vielleicht verloren wir uns auch einfach aus dem Blick. Einige von uns hatten zudem schon vorher das Handtuch geworfen und waren zu den Glückssuchern desertiert, ins indische Poona zu Bhagwan Rajneesh Osho oder zur österreichischen AA-Kommune, die mit Latzhosen, kahlgeschorenen Köpfen und Urschrei-Aktionen den Universitätscampus aufmischten. Und dann, irgendwann in den Achtzigern, da drehte sich der Wind. Die postmodernen Diskurse eroberten die Akademien und bliesen in fröhlichere Hörner. Freies Basteln mit der Welt war angesagt, und dabei gewann auch das gute Leben an Boden und inszenierte sich in der Provence und der Toskana. Die Welt war eine andere geworden, die Realitäten waren an uns vorbeigeflossen, wir mussten um Anschluss rudern, das Wir war auf das Format eines Einzeldaseins geschrumpft. Nun galt es, endlich eigenes Geld zu verdienen, Papa stellte seine monatliche Überweisung ein. Das Erwachsensein hatte begonnen.
Schnitt: dreißig Jahre später. Mein Gott: ein halbes Leben! Die Welt: kaum wiederzuerkennen, wenn man sie aus der bleiernen Zeit der siebziger Jahre betrachtet. Aus der ›Dritten Welt‹ von einst sind Tiger aufgesprungen, hoffnungsstark und selbstbewusst. Die Russen patrouillieren in Sankt Moritz und bestellen in den Restaurants gleich die ganze Speisekarte. Die Chinesen husten im Smog ihrer vergifteten Städte und ziehen, wie nebenbei, die Strippen an den Aktienmärkten. Die vereinten Europäer sind zerstritten über ihren Budgets und verschlafen ihre welthistorische Stunde. Und vieles, vieles davon ist schon wieder vorbei, und Neues kündigt sich an im Welttheater: das Zeitalter der alternativen Fakten. Die Welt zersplittert in eine mundane Zivilgesellschaft und in eine Vielzahl regionaler Brandherde, wo Duodezfürsten ihre Anhänger hinter sich sammeln, heißen sie nun Erdogan, Orban, Marine le Pen oder Donald Trump. Der große Showdown zieht herauf, es kämpfen zwei Wahrheiten um die Vorherrschaft. Ist Wahrheit das, was sich behauptet in der rhetorischen Arena, unbesehen von Fakt und Begründung? Oder ist Wahrheit das, was sich eingliedert in ein großes Ganzes, in ein volles Bild des Menschen? Der Philosoph mag darauf eine deutliche Antwort finden, allein, die Weltgeschichte lehrt es ein wenig anders. Denn immer dann, wenn es in der Weltgeschichte um Wahrheiten ging, um das richtige Leben und seine Feinde, waren Kriege nie fern. In der Asche der zerbombten Städte konnten die Überlebenden wohl so etwas wie Wahrheiten aufsammeln, konnten für eine Weltminute Trauer, ja auch Reue zeigen, doch dann siegte der Lebenswille der Nachgeborenen über die Wahrheiten. Dann wurde verdrängt, gebeugt und gebogen, damit das Leben eine klare Linie finde im psychischen Haushalt der Massen. Nein, wir leben immer noch im Falschen, immer noch und tiefer denn je zuvor. Die boomende Glücksratgeber-Literatur ein Teil des Problems. Zum Teufel mit dem kleinen, subjektiven, privaten Glück, sagt der Weltgeist, der seit zweihundert Jahren sein philosophisches Exil in der Literatur aufgeschlagen hat. Bei Paul Celan etwa, im Gedicht Tübingen, Jänner aus dem Jahr 1963:
Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräche er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.
24.03.2017
PETER VOLLBRECHT