Heimatverbundenheit und Bodenständigkeit sind Schlüsselworte in der Lebens- und Gedankenwelt Martin Heideggers. Es sind Worte, denen wir uns längst nicht mehr vorbehaltlos anvertrauen können, und zwar aus guten Gründen: Missbraucht in finstersten Zeiten haftet diesen Begriffen ein Geruch der Verdorbenheit an, ein Muff des Philiströsen und Engstirnigen, aus dem, wie wir gesehen haben und immer wieder sehen müssen, nur allzu leicht Ressentiment und Fremdenfeindlichkeit erwachsen. So ist zweifellos richtig: Nicht die fortschrittlichsten Kräfte unserer Zeit berufen sich auf diese Werte. —Denn wie soll man sich dazu bekennen, wenn ein Meer von Geflüchteten an den Außengrenzen Europas — herbe von uns zurückgewiesen — in Morast und verzweifelter Resignation versinkt? Zynisch erscheint es, von sozialer Zugehörigkeit, heimeliger Geborgenheit oder gar urwüchsiger Seinsnähe zu schwärmen, wenn immer mehr Menschen ihre Wurzeln kappen und zu Fuß ganze Kontinente durchqueren, um den elenden Zuständen ihrer Herkunfts- und Heimatorte zu entkommen.
Wie also den Wert der Heimat, die schon früh angelegte menschliche Verwachsenheit mit bestimmten Landschaften und Bezugsgruppen, überhaupt noch zur Sprache bringen, ohne sogleich unter den Verdacht der Rückständigkeit zu geraten? Doch sind Wurzellosigkeit und weltumspannende Kräfte der Nivellierung gewachsener Lebensformen nicht unser aller Crux? Ist der Verlust von Naturnähe und Bodenständigkeit nicht längst geteiltes Schicksal unzähliger Menschen, so dass wir darüber reden sollten, ohne dubiose Kategorien wie Volkstum oder Nationalgeist zu bemühen? Warum verlassen Menschen ihre vertrauten Lebenskontexte? — Wir wissen, dass sie dies zumeist nicht freiwillig tun, und oft auch, weil sie nicht ahnen konnten oder nicht glauben wollten, was sie erwartet.
Unverfänglicher scheint es, über den Zauber des Urwüchsigen zu sprechen, der uns ganz unwillkürlich vereinnahmt, wenn wir z. B. alte Werkstätten betreten, vielleicht die eines Geigenbauers oder die eines einfachen Küfers? – Heidegger respektierend wäre zudem zu sagen: Hohe Gefühle stellen sich nicht nur in ursprünglichen Landschaften ein, das Geheimnisvolle macht sich nicht allein auf schmalen Holzwegen bemerkbar, welche sich unerwartet im Dickicht verlieren, oder auf einem geliebten Feldweg, der die Anhöhe geschmeidig umrundet.
Und der selige Schmerz der Kindheit verbindet sich nicht allein mit dem groben Seil einer alten ehrwürdigen Kirchglocke, welches beim frommen Klang die Handflächen wundscheuert. Kindliche Verzauberung findet sich ebenso in schattigen Straßenschluchten einer Metropole, auf dem Gelände verfallener Fabrikgebäude und Brachflächen, auf krumm gewachsenen Bäumen am Spielplatzrand, im Gestrüpp verwahrloster Parkanlagen, in verwinkelten Hinterhöfen und verbotenen Kellern. Selbst hier bedeuten aufgeschlagene Knie und Ellenbogen mehr als nur Schmerz, eine Tüte Gummidrops beinahe mehr als Glück. Kinder finden fast überall heimatliche Atmosphären voller Sinnbezüge, jedenfalls, solange sie sich vertrauensvoll dem freien und freudigen Spiel mit ihresgleichen überlassen können.
Doch es gibt Lebensbedingungen, unter denen der Verlust von Zuversicht und Geborgenheit total ist. Dies zu beobachten müsste eigentlich jede Person erschüttern, die verstanden hat, was Zugehörigkeit bedeutet, jede, für die an den Füßen mitgeschleppte Heimaterde nicht nur Ballast ist, sondern Erinnerung und Rückhalt beim Hinaustreten ins Weite und Ungewisse. Menschen sind Gewohnheitstiere, die einen Anker, einen vollmundigen Geschmack der Kindheit benötigen, um sich allmählich daran gewöhnen zu können, auch Fremdes und Unvertrautes angstfrei in ihr Leben einzulassen. Dies gilt, eben weil Heimatlosigkeit und Aufgeschlossenheit, wie Plessner sagt, letztlich konstitutiv für unsere Humanität sind.
Aktuell nun in Anbetracht der Corona-Krise haben wir eine völlig veränderte Gemengelage. Aller mühsam erworbenen Weltläufigkeit zuwider sehen wir uns plötzlich gezwungen, unseren Aktionsradius massiv zu beschränken – d. h. in den eigenen vier Wänden auszuharren und nur noch allernächste Familienmitglieder zu sehen. Nicht jedem fällt diese Umstellung leicht, was Spannungen und nicht selten Aggression und selbst gewaltsame Ausbrüche nach sich zieht. Doch ebenso vernehmen wir, dass Menschen unvermutet innehalten, auf neue Weise miteinander reden, sich verbünden, das direkte Umfeld neugierig erkunden, beflügelnde Gemeinschaftsaktionen kreieren, ungewöhnliche Beschäftigungen entdecken, musizieren und Arien in die tristen Hinterhöfe schmettern, über den Gartenzaun ein nie und nimmer für möglich gehaltenes Gespräch beginnen, für den granteligen Nachbarn Lebensmittel beschaffen und vieles mehr.
Manche wundert sich, weshalb sie nicht längst schon damit begonnen hat, diesen großartigen Roman von Henry James zu lesen, eine andere beginnt beim Anblick gestrandeter Touristenmassen ganz unverhofft über den Sinn unserer unstillbaren Reisewut zu sinnieren, plötzlich ist sogar die Frage möglich, warum unsere halbwüchsigen Kinder unbedingt über den ganzen Erdball verstreut das eigene Selbst erkunden müssen, so dass wir sie jetzt nicht rechtzeitig in Sicherheit zu bringen wissen. Angesichts eines den Globus rasant usurpierenden Virus, welches uns erbarmungslos in Provinzialität zurücktreibt, sind plötzlich Erfahrungen möglich und Fragen erlaubt (oder besser erlaubter), denen zuvor stante pede der Stempel nostalgischer Sentimentalität und Rückständigkeit aufgedrückt wurde. Beginnen wir aktuell vielleicht sogar zu verstehen, was der seltsame Philosophenkauz aus dem kleinstädtischen Meßkirch seinem Publikum bereits 1955 mit einer Rede über die Gelassenheit nahebringen wollte?
Etwa den Gedanken, dass wir die Natur durch technikfixierte Vereinseitigung „zu einer einzigen riesenhaften Tankstelle“ degradiert haben, oder dass unser entgrenztes Verfügbarkeitsdenken nivellierende Vereinheitlichungs- und Anpassungszwänge erzeugt, die auch im persönlichen Bereich einem tiefgreifenden Resonanzerleben den Weg verstellen. Herrscht nicht tatsächlich ganz ungebremst, was Heidegger einen planetarischen Willen zur Macht nennt — ein weltumspannender Antrieb, natürliche Ressourcen auszubeuten, um sie gnadenlos kommerziellen Interessen zu unterwerfen?
Wir sehen heute: Bereits etablierte Techniken verlangen zusätzliche Techniken zur Überwachung und Bestandssicherung. Technikfolgen fordern neue technische Verfahren, um gemeistert zu werden. Dabei machen die Rückwirkungen unseres bisherigen Agierens augenfällig, dass wir im theoretischen Erfassen, Berechnen, Zugreifen und ausbeutenden Verwerten der Natur – Heidegger spricht hier von der Herrschaft des „Ge-stells“ – Wesentliches außer Acht gelassen haben: Indem die wissenschaftliche Ratio eine zu radikale Abtrennung zwischen Subjekt und Objekt vornimmt, findet nicht zuletzt unsere eigene Position im Ganzen der Welt keine angemessene Einschätzung mehr. Damit sind erhebliche Risiken verbunden. Wie richtig Heidegger hier lag, wird mittlerweile unleugbar: Erderwärmung und Klimawandel führen uns verheerende Auswirkungen dieser eindimensionalen Vorgehensweise vor Augen. In jahrhundertewährendem Voluntarismus und Aktivismus hat der Mensch – so Heidegger — verlernt, wahrhaft Sterblicher zu sein. Er verschließt die Augen vor den tatsächlichen Bedingungen seiner Existenz: vor seiner Begrenztheit, vor der Angewiesenheit auf ein natürliches Umfeld und zwischenmenschlichen Zuspruch, vor der in Leiblichkeit verankerten allgegenwärtigen Vulnerabilität.
Diese Verwundbarkeit wird aktuell durch die Ausbreitung eines neuen Virus unabweislich, ein Virus, welches ohne unsere globalisierende Maßlosigkeit niemals mit vergleichbarer Rasanz in jeden Winkel der Erde hätte vordringen können. Beschleunigt durch unser grenzenloses Begehren verweist das kronengleiche Teilchen uns nun offenbar nachhaltig in unsere Grenzen. Auch wenn wir, was sehr zu hoffen ist, über kurz oder lang Gegenmittel ersinnen, müsste der uns vorerst auferlegte Stillstand auch dem Borniertesten vor Augen führen, dass unsere technischen Lösungspotentiale und Verfügungskräfte keineswegs unerschöpflich und allmächtig sind. Wenn es ernst wird, müssen mitten in Europa wieder Schlagbäume fallen und wir sind auf Formen unmittelbarer menschlicher Solidarität und auf erfinderisches Improvisieren im Kleinen angewiesen: Nachbarn versorgen die Gefährdeten, lokale Textilfabrikanten stellen spontan auf Schutzmasken um, Schnapsbrennereien verlegen sich auf die Produktion von Desinfektionsmitteln und nahezu niemand bringt noch Verständnis für diejenigen auf, die Profit aus der Gefahrenlage schlagen.
Gewiss, man kann der Natur keine Absichten unterstellen, und doch wird im derzeitigen Krisenmodus eine verborgene Logik menschlichen Seins augenfällig, so als müsste etwas unbedingt einmal für alle vernehmlich in die Sichtbarkeit rücken: unsere grundlegende Verletzlichkeit, unsere unhintergehbare, letztlich „bodenständige“ Näheverwobenheit und Angewiesenheit aufeinander, unser Verlangen nach Solidarität, Anerkennung, sozialer Unmittelbarkeit und freundlicher Ansprache, unsere Freude an Kreation und Bewegung, und damit die Einsicht, dass wir nicht nur rechnende, sondern vor allem fühlende Wesen sind, Wesen, die sich von den Profiteuren maßloser Naturausbeutung ohne Sinn und Verstand nicht mehr länger alles gefallen lassen dürften. In der Not zeigt sich, dass eine neue Verbundenheit der Völker weit über das ökonomische Interesse hinausreichen muss.
Heidegger empfiehlt mit der Gelassenheit einen technikfreundlichen Modus, der zwischen Tun und Lassen oszilliert. Jenseits der Ideologie unbegrenzter Verfügungsgewalt und Verwertbarkeit, die im 20. Jahrhundert zur Dominanz gelangte, finden wir in der Gelassenheit, die eigentlich Besonnenheit ist, wieder zu unmittelbaren Erfahrungsweisen hin, Erfahrungsweisen, die uns den Widerfahrnischarakter des Lebens spürbar nahebringen — eine existenzielle Gegebenheit, die sich durch all unser technisches Potential nicht aufheben lässt. Vielmehr öffnen wir uns in Gelassenheit dem eigentlichen Sinn von Technik, welche wir in Anspruch nehmen können, ohne unsererseits von ihr besessen zu werden. Es ist die zentrale Herausforderung des digitalen Zeitalters hierüber nachzudenken.
01.04.2020
HEIDEMARIE BENNENT-VAHLE