Noch bevor die Auswirkungen des Klimawandels nicht nur lokal, sondern für alle massiv spürbar werden, hat eine Pandemie mit enormen Ausmaßen von Infizierten und Todesfällen die Welt überrascht. Die gegen sie initiierten Maßnahmen setzen vielerorts das für normal Gehaltene außer Kraft. Plötzlich wirkt es, als herrschten in einer liberalen, die individuelle Autonomie als höchsten Wert propagierenden Gesellschaft nur mehr die staatlichen Organe darüber, wie sich unser Alltag gestaltet.
Ein verständlicher, doch deshalb kaum weniger gefährlicher Reflex angesichts solcher unvorhergesehenen und unabwendbaren Eingriffe besteht im sich ausbreitenden Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Welchen Schaden diese Gefühlsreaktion anrichten kann, haben Psychologen um Martin Seligman schon seit den siebziger Jahren (unter dem etwas irreführenden Stichwort „Erlernte Hilflosigkeit“) untersucht und herausgefunden, dass eine fortgesetzte Erfahrung unbeeinflussbarer unangenehmer äußerlicher Veränderungen die realistische Einschätzung der eigenen Einflussmöglichkeiten grob verzerrend herabsetzt und damit jegliche Hoffnung zu untergraben vermag. Aus dem frustrierenden Erlebten wird unvermittelt der falsche Schluss gezogen, mit eigenem Handeln nichts mehr bewirken zu können. Man versinkt in einer depressiven apathischen Schockstarre, die die Wahrnehmung aller durchaus bestehenden Handlungsoptionen blockiert. Wer sich behördlicher Willkür ausgeliefert und zur Kontaktbeschränkung und Untätigkeit verurteilt wähnt, droht daran zu verzweifeln.
Wie in anderen Fällen kann philosophische Praxis auch gegen diese problematische intuitive Überreaktion (ebenso wie gegen das Sich-Verlieren in ausufernder Selbstbespiegelung und diffusen Ängsten) auf kritische Reflexion und Differenzierung als Ansatzpunkte für einen selbstermächtigenden Perspektivwechsel zurückgreifen.
In der aktuellen Gemengelage bietet sich als gedankenordnende Sortierhilfe der Vernunft eine aufklärende Unterscheidung an, die Gottfried Wilhelm Leibniz 1710 in seiner Theodizee einführt: die Unterscheidung zwischen physischem, moralischem und metaphysischem Übel. Physische (im ursprünglichen Wortsinn: natürliche) Übel sind demnach Naturkatastrophen, Seuchen und andere Plagen mit ihren höchst unerwünschten Auswirkungen auf den Menschen wie Schmerzen und Tod. Moralische Übel bestehen in den von uns selbst zu verantwortenden sittlichen Verfehlungen. Die metaphysischen Übel schließlich resultieren aus der generellen Unvollkommenheit der Welt, die sich auch im Menschen als sterblichem Wesen manifestiert. Ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der Aufklärung besteht insbesondere darin, physisches und moralisches Übel voneinander getrennt zu haben: Selbst wenn wir (nicht selten aus Unwissenheit) durch unser Handeln zu den Mitauslösern gehören, beruht nicht jedes Ungemach auf moralischen Verfehlungen oder wäre gar als Strafe Gottes zu deuten. Es handelt sich manchmal schlicht um eine unvorhergesehene unerwünschte Entwicklung innerhalb der Natur, die uns umgibt und deren Teil wir trotz der wachsenden digitalen Virtualisierung unserer Alltagswelt nach wie vor bleiben.
Was zeigt uns diese Differenzierung konkret im Fall einer viralen Pandemie, die unser Leben einschränkt und sogar bedroht? Welche Handlungsmöglichkeiten eröffnet sie uns im jeweiligen Feld?
Die physischen Bedrohungen durch das Virus lassen sich nur auf wissenschaftlicher Grundlage sinnvoll angehen. Aufgabe der Virologen und Epidemiologen ist es, aussichtsreiche Theorien über Zusammenhänge der Entstehung und Ausbreitung zu entwickeln, diese anhand der aus den umfangreich erhobenen Daten gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen und auf dieser Grundlage geeignete wirksame Maßnahmen vorzuschlagen, die von Verhaltensregeln über Bereitstellung von Intensivbetten bis zur Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen reichen können. Für die Abwägung und Umsetzung stehen vorrangig die politischen Organe in der Pflicht. Was wir als Laien beitragen können, ist begrenzt, aber nicht unwichtig: uns angemessen informieren und nur fundierte Informationen aktiv verbreiten; vorgeschlagene Maßnahmen beherzigen, zumindest um ihre Wirksamkeit überprüfbar zu machen; möglicherweise unsere Erfahrungen und Ideen in die politische Diskussion einbringen; uns selbst mit einem gesunden Lebensstil fit halten, um dem auf die Dauer fast unvermeidlichen Virenkontakt etwas entgegensetzen zu können.
Moralische Herausforderungen spielen in dieser Situation eine mindestens ebenso entscheidende Rolle. Wie schon Leibniz bemerkt, führt unser Versagen auf diesem Gebiet häufig zu einer Verschlimmerung der spürbaren Folgen eines physischen Übels. Umgekehrt stellt uns auch das schiere Ausmaß der Fallzahlen gesellschaftlich vor sonst eher wenig beachtete ethische Fragen der medizinischen Triage oder der Abwägung von gesundheitlichen und wirtschaftlichen Überlebensrisiken, die der öffentlichen Diskussion bedürfen. Im Persönlichen finden wir ein konkreteres Betätigungsfeld. Deutlicher als in der eingespielten Normalität werden im Brennglas der Ausnahme egoistische und altruistische Verhaltensweisen unterscheidbar. Sicher, die Exzesse Einzelner, die eigene Versorgung mit für essenziell gehaltenen Gütern vorrangig sicherzustellen oder die vermeintliche eigene Unverletzlichkeit für das am kurzsichtigen Vergnügen orientierte Unterlaufen von Kontaktverboten zu missbrauchen, geraten leicht in den Fokus der Wahrnehmung und befeuern die das Gefühl der Hilflosigkeit weitertragenden Klagen über die Schlechtigkeit der Welt.
Aber es war auch noch nie so einfach und schnell verbreitet, Solidarität mit Schwächeren zu üben. Wu-Wei – „Handeln durch Nicht-Handeln“ heißt die taoistische Weisheit, der man bereits durch Einhalten von Kontaktsperren und Unterlassen von Hamsterkäufen Genüge tun kann. Darüber hinaus begegnet uns von gezielten Spendenaufrufen über aktive Einkaufshilfe für Risikogruppen bis zum Maskennähen eine Vielzahl täglich erweiterter Beispiele uneigennütziger tätiger Hilfe. Jede und jeder kann sich beteiligen oder im eigenen Umfeld mit den jeweiligen individuellen Fähigkeiten selbst kreative Lösungen entwickeln. Lockerungen in den Ausgangsbestimmungen lassen sich nicht nur zur Wiederaufnahme des Konsums nutzen, sondern auch zur Wiederaufnahme von Begegnungen und Hilfeleistungen – in physischer Distanz, aber wachsender sozialer Nähe.
Sogar der Umgang mit unserer metaphysischen Grundkonstellation stellt ein Handlungsfeld dar. Kontingenz – das unvermeidliche Ausgesetztsein des Menschen gegenüber Unvorhergesehenem – ebenso wie die sehr vorhersehbare, aber oft verdrängte Endlichkeit unseres eigenen und des Lebens uns nahestehender Menschen fluten als zunächst kaum bewältigbar scheinende Kränkungen unabweisbar ins Bewusstsein, doch sie müssen nicht in Sinnleere münden. Die Eindämmung des Gefühls der Hilflosigkeit gelingt nicht nur mit dem Bemühen um Akzeptanz und Gelassenheit, sondern auch mit Empathie und solidarischem Handeln und damit der Stiftung eines eigenen über uns hinausweisenden Lebenssinns. Mit den schrittweisen Lockerungen der getroffenen Maßnahmen werden, wenn uns erwartungsgemäß in absehbarer Zeit weder Medikamente noch Impfstoffe in Breite zur Verfügung stehen, weitere Infektions- und Sterbewellen auf uns zurollen. Nur wenn wir Sterblichkeit und Unverfügbares nicht verdrängen, sondern zum Bewusstsein und gemeinsam mit anderen zur Sprache bringen, können wir im Hinausblicken über die individuelle Betroffenheit einen Weg suchen, sie in die eigene Lebenshaltung zu integrieren und für solidarisches Handeln fruchtbar zu machen, das uns selbst und andere tröstet.
So vermag vielleicht sogar Hoffnung aufzukeimen – nicht auf eine unrealistische heile Welt, sondern auf unsere Fähigkeit, Krisen im gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu überstehen und womöglich aus gewonnenen Lerneffekten eine bessere Zukunft zu gestalten. Wir können diese zarte Pflanze nähren, wenn wir bewusst auf ermunternde Signale achten und verheißungsvolle Entwicklungen unterstützen. Im Gefühl der Hilflosigkeit versinken müssen wir nicht. Das Gebot der Stunde fordert vielmehr „aktive Gelassenheit“, die neben berechtigtem Trauern das Unverfügbare ohne habituelles Lamento akzeptiert, den Blick auf das Veränderbare richtet und sich dort engagiert, wo es nach dem eigenen reflektierten Empfinden Sinn verspricht.
4.5.2020
LUDGER PFEIL