Wirkliche Anerkennung

Die nach dem Anlaufen der ersten Corona-Woge offenbar überraschend als „systemrelevant“ erkannten, als „Heldinnen und Helden des Alltags“ apostrophierten und abendlich beklatschten Pflegekräfte erhalten eine offizielle Anerkennung: einen einmaligen Bonus von maximal 1.500 €, allerdings beschränkt auf die in der Altenpflege Tätigen – die Krankenhausbeschäftigten bleiben mit dem Argument, sie verdienten schon jetzt besser, außen vor. Dabei gingen gerade sie ein hohes Risiko ein: viele Tausende Beschäftigte in Krankenhäusern und Arztpraxen infizierten sich mit SARS-CoV-2 – nicht bei Familienfeiern oder Ballermann-Partys, sondern in ihrer systemrelevanten Arbeit.

In welchem System muss man eigentlich relevant sein, um zur erlauchten Auswahl zu zählen? Vom griechischen Wortsinn her eine lapidare Zusammenstellung, bestand „das System“ in der Bankenkrise aus dem Kartenhausgefüge der Finanzdienstleister. Dieses entpuppte sich unvermittelt als wacklige Basis der Weltwirtschaft, die es – koste es, was es wolle – zu stabilisieren galt. Seit der Covid-19-Pandemie scheint „das System“ ein weit verwobeneres, doch nicht minder gefährdetes Geflecht des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens zu umfassen. Eine angemessene Gesundheitsversorgung seiner Mitglieder fungiert ja nicht lediglich als Wirtschaftsfaktor – sie bildet einen Grundpfeiler jedes menschenwürdigen Gemeinwesens. Die mit der erweiterten Systemrelevanz verbundenen Privilegien wirken gegenüber den milliardenschweren Rettungspaketen für Banken allerdings überschaubar – immerhin darf man für die Kinder die Notfallversorgung der Krippen und Schulen in Anspruch nehmen.

Wir sind in Deutschland bisher – offenbar dank wirksamer politischer Maßnahmen – einer massiven Überforderung unseres Gesundheitswesens entgangen. Doch einige erlebten das Geschehen sicher weniger entspannt als allgemein wahrgenommen. Neben den betroffenen Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen zählten dazu vor allem diejenigen, die auf den Intensivstationen zwischenzeitlich bis zur Erschöpfung arbeiteten. Sie erfüllten ihre anspruchsvolle Aufgabe anfangs mit mangelhafter Schutzausrüstung in ständiger Gefahr vor Ansteckung  – nicht nur in der Sorge um die eigene Gesundheit, sondern ebenso mit der Furcht, krankheitsbedingt auszufallen und die Situation für die Kolleginnen und Kollegen weiter zu verschärfen. Am Ende grämte es sie am meisten, dass sie manchen ihrer Schützlinge nach wochenlanger aufwändiger Beatmung und Betreuung beim einsamen Sterben machtlos zusehen mussten.

Sind wir damit nicht nur mehr oder weniger glücklich durchgekommen, sondern auch für die Zukunft – wie wir allerorts hören – „gut aufgestellt“? Angesichts maroder oder kaputtgesparter Gesundheitssysteme in den USA, Italien oder Großbritannien, die schnell an die Grenzen einer menschenwürdigen Versorgung gerieten, schlagen sich die hierzulande politisch Verantwortlichen – je nach Gemütslage und Sendungsbewusstsein – stolz an die Brust oder bedauern mitleidig. Sollte das Strohfeuer des Applauses schon das Höchstmaß der Anerkennung und der Bonus bereits der Gipfel der Güte gewesen sein?

Möglicherweise legt im aktuellen Sprachgebrauch bereits die Rede vom Gesundheits-„System“ eher technische und betriebswirtschaftliche Assoziationen nahe. Konzentriert sie nicht den Blick verengend auf die Versorgung mit Schutzkleidung, Masken, Beatmungsgeräten und Betten zur Intensivversorgung sowie die Bereitstellung genügender menschlicher „Ressourcen“ – und lenkt damit ab von der Betrachtung der Menschen, die diese Arbeit leisten?

Nicht nur wegen seines 250. Geburtstages am 27. August diesen Jahres drängt sich Hegel in den Sinn. Da für ihn ohnehin nur das Ganze das Wahre ist, verwendet auch er den Begriff des Systems gerne und häufig – für philosophische und wissenschaftliche Gliederungen, aber auch dort, wo er von einem „System der Sittlichkeit“ spricht und damit die vielfältigen Formen der menschlichen Lebensgestaltung in den Blick nimmt. Zur Dynamik eines Systems gehört für Hegel dessen dialektische Entwicklung, die am Ende des Begreifens vermeintliche Gegensätze als einseitige Übergangsstadien in sich vereint.

So enthält Hegels „Phänomenologie des Geistes“ im Abschnitt über „Herrschaft und Knechtschaft“, eine inspirierende Analyse der Anerkennung, aus der rasch die Erkenntnis dämmert, dass Ausbeutungsverhältnisse nicht die ganze Wahrheit widerspiegeln. Der dialektische Prozess ist erst abgeschlossen, wenn der Knecht sein Selbstbewusstsein aus seiner Arbeit heraus entwickeln konnte und der Herr sein wesentliches Angewiesensein auf diesen selbstbewussten und selbstbestimmten Gehilfen erfasst hat.

Daraus könnten wir lernen, dass sich auch die Pflegenden in Krankenhäusern und Helfenden in Arztpraxen nicht auf Ressourcen reduzieren lassen, die als knechtende Dienstleister ökonomisch optimiert zur Erfüllung der Bedürfnisse herrschaftlicher Anspruchsteller eingesetzt werden. Vielmehr handelt es sich um – aufgrund persönlicher Neigung und Begabung – anderen besonders zugewandte Menschen, die es beherrschen, das ureigenste Interesse Bedürftiger an Wiederherstellung der körperlichen Unversehrtheit zu ihrem Anliegen zu machen, ohne sich dabei von ihrer Empathiefähigkeit überwältigen zu lassen. Diese Frauen und Männer (nebenbei bemerkt nicht selten mit Migrationshintergrund) verdienen jeden erdenklichen Respekt. Die Freude an solcher Arbeit ist keine Selbstverständlichkeit und sollte höchstes Ansehen genießen.

Noch entscheidender könnte jedoch sein, was Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ ausführt. Demnach genügen das Bewusstsein des Sollens und der gute Wille (das, was Hegel „Moralität“ nennt) keinesfalls zur Realisierung des Guten. Um aus dem Sollen ein Sein werden zu lassen, darf sich das Wohlwollen nicht in mehr oder weniger zufälligen Einzelaktionen und persönlichen Wertschätzungsbekundungen erschöpfen, sondern muss in allgemeine Umgangsformen, verbindliche Regelungen und entsprechende Institutionen (das, was Hegel mit dem altertümlich anmutenden Begriff „Sittlichkeit“ bezeichnet) münden, um Wirksamkeit und damit Wirklichkeit zu erlangen. Wenn nicht andere „Sitten“ einkehren, bleibt alles nur ein hehres Wunschbild.

Was würde das im konkreten Fall bedeuten? Welche in Hegels Sinne „wirklichen“ Anerkennungspraktiken gelten in unserem Gemeinwesen? Fraglos eine angemessene Entlohnung, die mit Mindestlöhnen abzusichern wäre, doch mehr noch Arbeitsbedingungen, die den Respekt vor der menschlichen Leistung der tätigen Nächstenliebe widerspiegeln, statt dem Diktat der betriebswirtschaftlichen Ökonomie zu einer immer engeren Taktung nach dem Vorbild der Industrie zu entsprechen. Beides muss Niederschlag in Gesetzesrahmen und Tarifverträgen finden. Wichtig ist ebenso eine kontinuierliche Anhörung und zuverlässige Einflussnahme durch stetige Repräsentation in maßgeblichen Entscheidungsgremien – auch damit über regelmäßige Berichterstattung ein fester Platz im öffentlichen Bewusstsein eingenommen werden kann, der die Wertschätzung dauerhaft sichert.

Allenthalben wurde und wird von aus der Corona-Erfahrung zu ziehenden Lehren gesprochen – das Gesundheitswesen ist hierbei nur ein Aufgabenfeld neben anderen. Effektives Lernen würde bedeuten, die neu gewonnene Einsicht in die Relevanz und den gutwilligen Applaus in einem „System der Sittlichkeit“ mit nachhaltig menschenfreundlichen und wirksam anerkennenden Strukturen zu verankern und damit im Hegelschen dialektischen Sinne dreifach aufzuheben: die Einseitigkeit der Symbolhandlung zu überwinden, das darin Ausgedrückte zu bewahren und auf eine höhere Stufe zu heben. Solange das nicht gelingt, haben wir noch nicht ausgelernt.

22.8.2020

LUDGER PFEIL