Wem die Stunde schlägt

Den Soundtrack dieser letzten Tage des Jahres produziert für mich das Martinshorn der Notarzt-, Rettungs- und Krankenwagen, das mich mittlerweile auf jedem Mittagsspaziergang zu begleiten scheint. Der Heulton mag wohl für manche, deren Notlage er gilt, das Vorspiel zum Rhythmus des Beatmungsgeräts oder gar zur Totenglocke bedeuten und so wandern meine Gedanken zum Satz „Wem die Stunde schlägt“. Dieser erinnert mich (als Nebenfach-Anglist) weniger an den Titel des Romans von Ernest Hemingway über den spanischen Bürgerkrieg, den darauf basierenden Kinofilm oder den gleichnamigen Metallica Song, sondern vordringlich an ein Werk des englischen Dichters John Donne (1572-1631).

Nachdem er sich über die erhebende Wirkung des Glockenklangs zu verschiedenen Anlässen ausgelassen hat, fokussiert Donne sich auf das Totenläuten. In dem meistzitierten Abschnitt seiner Meditation XVII formuliert er zum einen, niemand sei eine Insel, wir Menschen seien wie ein Kontinent miteinander verbunden, und so sei, wenn auch nur eine Scholle vom Meer hinweggeschwemmt werde, etwas von Europa weggenommen. Das ist ein Bild, das durchaus fruchtbare Überlegungen zum unmittelbar bevorstehenden Brexit anregt, doch ich will hier den Fortgang der Passage in den Blick nehmen: „any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind, and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.” – “Der Tod eines jeden Menschen nimmt mir etwas, weil ich in die Menschheit eingebunden bin. Schick‘ daher niemals nachzufragen, für wen die Glocke schlägt; sie schlägt für dich.“ Wenn ein Mensch stirbt, bricht für uns alle ein Stück aus unserer Gemeinschaft heraus. Zugleich hat es etwas Tröstliches, dass es nicht nur Einzelnen so ergeht und wir mit dieser Aufgabe nicht allein stehen. Mit der Teilnahme am Trauerzug bringen wir unsere empfundene Solidarität zum Ausdruck.

Sich selbst als potenziell immer verwundbaren und anfälligen Teil der Menschheit reflektierend drängt sich Donne der Gedanke auf, dass er es leicht hätte selbst sein können, dessen Beerdigung vom Geläut begleitet wird. So gibt das Martinshorn mir Anlass, über die eigene Sterblichkeit nachzudenken, darüber, ob ich für einen mehr oder weniger frühen Tod bereit wäre und wie ich mein Leben an diesem Punkt als abgeschlossene Geschichte erzählen könnte, falls jede Fortsetzung ersatzlos gestrichen wird. Eigentlich sollte ich gut vorbereitet sein, denn „Philosophieren heißt Sterbenlernen“. Wenn Montaigne in seinen Essais an diesen Spruch Ciceros erinnert, empfiehlt er, den Tod als natürliches Ende des Daseins hinzunehmen und weniger Aufhebens um ihn zu machen. Das ist eine reife Haltung, zu der man vielleicht insbesondere am Ende eines langen erfüllten Lebens gelangen kann.

Wenn es um den Besuch betagter Verwandter über die Weihnachtstage angesichts hoher Coronavirus-Inzidenzwerte geht, plädiert in diesem Geiste die Chefredakteurin der Zeitschrift „Philosophie Magazin“, Svenja Flaßpöhler in Talkshows dafür, die Älteren nicht voreilig zu entmündigen, sondern in den Familien gemeinsam mit ihnen eine freie und bewusste Entscheidung zu treffen. Dazu gehört allerdings auch das volle Bewusstsein über das Risiko einer Ansteckung mit potenziell fatalen Folgen, das nur ausschließen kann, wer sich länger als eine Woche mit keinem anderen Menschen getroffen hat. Andernfalls bedeutet diese Wahl insbesondere für Angehörige von Risikogruppen im ungünstigen Fall einen schweren Verlauf und ein Sterben in Einsamkeit.

Um sich nicht bei solchem Ausgang für unbedachtes und naives Verhalten abgrundtief zu schämen, wie man es leider von Betroffenen hört, ist die dringende Prüfung anzuraten, ob man gegebenenfalls die kausale Schuld, die man mit seiner Besuchsentscheidung auf sich geladen hat, vor sich selbst und allen anderen im familiären Umfeld verantworten kann. Wäre es eine Lösung, sich von den Vulnerablen im Voraus Absolution erteilen zu lassen: Das ist es mir in wirklich jedem Fall wert? Oder müsste man ihnen selbst dann misstrauen, weil sie dazu neigen, solche Floskeln leichtfertig dahinzusagen und damit die Hinterbliebenen womöglich doch in hilflos verzweifeltem Bedauern zurückließen? Ein Weihnachtsfest, bei dem man befürchtet, dass es aus Altersgründen möglicherweise das letzte gemeinsame sein könnte und das deshalb als kostbar und unaufschiebbar gewertet wird, verwandelte sich in eine ewig schuldbeladene Erinnerung für die, die sich eingestehen müssten, Auslöser dafür gewesen zu sein, dass es das letzte war.

17.12.2020

LUDGER PFEIL