Wer ist „Querdenker“?

Schwäbologische Ergänzungen

Unter dem Titel „Querdenker“ hat eine Bewegung aus Baden-Württemberg bundesweit für Furore gesorgt. Während im Rest der Republik ein gewisses Unverständnis herrscht, weshalb die Schwaben ihr zuletzt am Großprojekt „Stuttgart 21“ neu belebtes „Wutbürgertum“ mit missionarischem Eifer über die Landesgrenzen streuen, macht aufmerksame „Einheimische“ ein anderer Aspekt stutzig: Der Titel „Querdenker“ ist im Schwabenland alles andere als eine positive Zuschreibung. Nennen wir Schwaben jemanden einen „Querdenker“, dann kommt dies unter keinen Umständen einer Anerkennung seiner Erkenntnis- und Orientierungsfähigkeiten gleich. Im Gegenteil: Diese Bezeichnung verdient sich, wer unter allen Umständen und trotz aller Informationen an einer Meinung festhält.

Diese Meinung muss sachlich nicht immer komplett falsch sein, die „Querdenkerin“ ist also nicht zwangsläufig kognitiv eingeschränkt, aber sie zeichnet sich immer durch eine fehlende Sensitivität für den Kontext ihrer Äußerungen und Handlungen sowie durch eine renitente „Bockigkeit“ aus, der mit Vernunft und gutem Willen nicht beizukommen ist. Sie stellt eine unerschütterliche Beharrlichkeit in der Verfehlung dessen zur Schau, was die klassische Rhetorik das aptum nennt, die situative Angemessenheit menschlichen Redenkönnens. Wer trotz guter Gründe bei einer Gemeinderatssitzung die Renovierung des örtlichen Spielplatzes blockiert, einfach weil er kann, oder weil ihm das ganze moderne „Tamtam“ um Spielplätze auf die Nerven geht („wie haben früher auch g‘spielt“) – der ist ein „Querdenker“. Wer reflexhaft Antihaltungen einnimmt, weil es ihm suspekt ist, dass auch Menschen, die ihn nicht interessieren, manchmal wichtige Sachen wissen – der ist ein „Querdenker“. Wer sich sicher ist, aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen und Kompetenzen davon befreit zu sein, darauf zu achten, dass andere Menschen abweichende Lebensrealitäten bewohnen, die auch informativ sind – der ist „Querdenker“. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Zentral ist die Diskrepanz zwischen Erkenntnis- und Kontextualisierungvermögen, zwischen Wissensanspruch und Sensibilitätsambition. Menschen, bei denen diese Diskrepanz besonders ausgeprägt ist, heißen im Schwabenland „Querdenker“.

Umso verwunderlicher ist, dass die besagte Gruppe von Menschen, angetreten, um mit ihrem überbordenden Informationsstand und ihrer überlegenen Skepsis einer ohne Zweifel imperfekten Regierung das Handwerk zu legen, sich gerade diesen Begriff auf ihre Fahnen geschrieben hat. Haben wir es dabei mit einer Art „Freud’schem Vernenner“ zu tun? Pflegen die Beteiligten insgeheim das unbewusste schwäbisch-prometheische Begehren, als legendäre Athleten der besagten Diskrepanz in die Geschichtsbücher der Corona-Pandemie einzugehen? Oder waren es vielleicht gar keine Schwaben? Handelt es sich bei dem Phänomen der „Querdenker“ gar um eine „Operation unter falscher Flagge“? So absurd es klingen mag: Keine echte Schwäbin wäre auf die Idee gekommen, ihre Bewegung so zu taufen. Bleiben zwei Optionen: Die Gründer der „Querdenker“ kennen sich in ihrer eigenen sprachlichen Lokalkultur nicht aus (was ja durchaus erstrebenswert wäre, bevor man Berlin zu „stürmen“ sucht), oder die Schwaben sind selbst Opfer einer Verschwörung. Endlich.

17.01.2021

FABIAN ERHARDT