„R-Wert“ und „Wahrheit“

Das Buch „Die Welt im Fieber“ der britischen Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney, 2018 zum hundertsten „Geburtstag“ der spanischen Grippe erschienen, kann als Meilenstein der Beweisführung dafür gelten, dass eine Pandemie ohne dazugehörige Infodemie nicht zu haben ist. Diese schlägt sich selbst im Namen dieser letzten großen respiratorischen Seuche wieder: Ihr Ursprung liegt wahrscheinlich in einem US-Militärcamp in Kansas, unter Umständen sind wir auch in der Verlegenheit, ihn nicht genau lokalisieren zu können. Dass sie aus Spanien kommt, gilt als ausgeschlossen.  

Nun sind wir inzwischen alle hinreichend vertraut mit dem Begriff des „R-Werts“. Der „R-Wert“ bezeichnet eine Größe aus der Infektionsepidemiologie, der medizinischen Fachdisziplin, die sich mit der Ausbreitung von übertragbaren Krankheiten beschäftigt. „R-Wert“ ist dabei eine Abkürzung für „Basisreproduktionszahl“, die angibt, wie viele Menschen von einer infektiösen Person im Durchschnitt angesteckt werden. Ihren Höhepunkt erreicht diese Zahl in Deutschland im März 2020 mit dem Wert 3,5, derzeit changiert er im bundeweiten Durchschnitt meist knapp über und knapp unter der Wert 1. So viel zur pandemischen Seite infektiöser Reproduktion.

Wie steht es aber um die infodemische Seite infektiöser Reproduktion? Wie viele weitere steckt eine Person an, die mit Falschinformation angesteckt wurde? Erstaunlich viele Menschen im Umkreis der Corona-Proteste ordnen sich selbst der Gruppe der „Truther“ zu. Auf deutsch würde man wohl sagen: Sie halten sich für „besonders stark von der Wahrheit bewegte Menschen“. Ist Covid19 schon für seine lange Inkubationszeit berüchtigt, so verlieren wir hier jeden Maßstab – mitunter schwelt die Infektion überdurchschnittlicher Wahrheits-Bewegtheit wohl schon jahrelang vor sich hin, bevor sie schließlich ausbricht.

Dann aber geht es Schlag auf Schlag: Die schleichenden Ahnungen, welche die ausgedehnte Inkubationszeit kennzeichnen, erkennen sich plötzlich als Zeichen der Mission, „alle Lügen satt zu haben“. Aus dem diffusen „hier stimmt doch was nicht“ wird innerhalb weniger Tage die Gewissheit, an einem „Endkampf“ zwischen Gut und Böse teilzunehmen. Anders als bei Covid19, bei dem die Infektiosität oft am stärksten vor dem Ausbruch der ersten Symptome ist, steuert die überdurchschnittliche Wahrheit-Bewegtheit in den Wochen und Monaten der ersten Symptome auf ihre maximale Infektiosität zu: Die sozialen Medien laufen heiß; Zweifel werden als kognitives Werkzeug nicht länger benötigt (zu „Mainstream“); die Sache, der man auf Spur ist, wird immer größer, ihre Konturen immer schärfer; die Zahl der naiven „Schlafschafe“, die einen umgeben, steigt stündlich; die Sicherheit, „die“ Wahrheit sei per Google aufspürbar, wird unerschütterlich.

Über die Basisreproduktionszahl dieser akuten Phase überdurchschnittlicher Wahrheits-Bewegtheit lässt sich nur spekulieren. Beobachtungen der deutschlandweiten „Querdenken“-Proteste zwischen Frühjahr und Herbst 2020 legen nahe, dass sie zwischen 0 und 20 oszilliert. Erschwert wird die Erfassung durch einen deutlichen „Windpocken-Party“-Effekt: Menschen, bei denen sich bereits die ersten Symptome überdurchschnittlicher Wahrheits-Bewegtheit zeigen, verabreden sich besonders gerne mit Menschen, bei denen sie eine bereits geschehene Infektion wittern, die noch in ihrer Inkubationszeit schlummert. Also ungefähr so, als ob Menschen, die sich mit Corona infiziert haben, einen untrüglichen Riecher für Menschen entwickeln, die sich ein paar Tage nach ihnen infiziert haben, um bevorzugt mit diesen Zeit zu verbringen.

Dieser Befund harrt einer genaueren Untersuchung. Es scheint auf den ersten Blick fast so, als wüssten wir über die Pandemie bereits jetzt wesentlich mehr als über die Infodemie. Die Gewissheit, überdurchschnittlich von der Wahrheit bewegt zu werden, ist eine ernste Symptomatik, die bei schweren Verläufen zu enthemmenden Opfer- und Notwehrerzählungen führt. Wer weiss, vielleicht ist es an der Zeit, „alethurgische Infektiosität“, also das Infektionsrisiko mit der nicht irritierbaren Überzeugung, der Wahrheit näher zu sein als andere, als philosophische Grundbegrifflichkeit ernst zu nehmen. Nicht, dass es noch zu exponentiellem Wachstum kommt.

02.03.2021

FABIAN ERHARDT