Ein recht bekannter Satz lautet: „Die Liebe geht, die Hobbys bleiben.“ Übertragen auf unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation ließe sich bemerken: „Die Regierung geht, die Probleme bleiben.“ Seit wir mithilfe eines globalen Netzes an seriöser Wissensproduktion dem tatsächlichen Ausmaß dem Klimawandel auf der Spur sind, markiert die Bemerkung den status quo nationaler Ausgangslagen. Der Spielraum der Ignoranz schrumpft – umso trotziger die Haltung derer, die gemeinsamen Fortschritt und Re-Justierungen der persönlichen Lebenspraxis als Zumutungen erleben. Unzählige Menschen machen heutzutage neumalklug von skeptischen Argumenten Gebrauch, die auf die eine oder andere Weise auf die Relativität all unserer Wissensansprüche zielen, um auf ihr „Bauchgefühl“, ihre „Intuition“, oder ihre „Recherchen“ hören zu dürfen. Einst waren die Götter – später der eine Gott – das Ziel tiefsinniger Apologien; heute sind es die eigenen Meinungen, deren Infragestellung einem Sakrileg gleicht.
Die Formatprobleme in den derzeitigen Meinungsbildungsprozessen sind unerhört. Wir lernen den Planeten auf naturwissenschaftlicher Ebene als empfindlichen Letzthorizont humanen Lebens kennen, und doch schaffen wir es kaum, die „Formatierung“ dieses Wissens in die Formatvorgaben zu übersetzen, welche kognitiven Systemen mittlerer Reichweite auferlegt bleiben. Deren zentrales Kalkül: Das Nahe zählt. Das Nahe, das bin ich, und was ich gerne möchte; das sind die Bilder, deren Verwandlung in reale Situation ich anstrebe; das sind die Erwartungen meiner Nächsten; das sind mein Appetit, meine Gewohnheiten, meine Gedanken. Mein Kleidungsstil. Das Nahe, das sind die Maulwurfstunnel, welche die Räumlichkeit meines Daseins ausmachen. Das Nahe ist das, was mir unverhandelbar zusteht. Und mein Nahes ist transportierbar, überall soll gefälligst Platz für es sein. Unter Umständen bin ich bereit, einen Stollen zu schließen und einen anderen zu graben, aber – und das ist von höchster Dringlichkeit – nur, wenn ich das selbst will. Über mein Nahes bestimme ich. Was auf meinen Teller kommt, welches Auto ich fahre, welchen Urlaub ich mir gönne – MEIN Nahes. Grundrechtlich abgesichert. So kenne ich das, so steht es mir zu.
Demokratisches Gemeinwesen, so wird gerne behauptet, sei gefährdet durch alle möglichen Arten der Einschränkungen unserer Grundrechte. Wohin das führt wisse man ja. Eines bleibt hier konsequent übersehen: Grundrechte wie die uns garantierten wurden zur Sicherung und Förderung des humanen Lebens gestiftet. Und die Vorgaben zur Bewerkstelligung dieses Vorhabens haben sich geändert, so dass die Herausforderung nicht heisst: Wie verteidige ich Grundrechte blindwütig ihrem Wortlaut gemäß, sondern wie werde ich der Sicherung und Förderung des humanen Lebens gerecht? Wie können Grundrechte so formuliert werden, dass sie diesem Anspruch auch weiterhin gerecht werden?
Das große Schreckgespenst, das an dieser Stelle mit verblüffender Hartnäckigkeit für die ersehnte Hemmung sorgen soll: der Kollaps der Demokratie. Lieber mit dem Recht träge Parteien zu wählen untergehen, als anzuerkennen, sich inmitten eines unvermeidbaren Wandels der Relevanzen zu befinden. Niemand hat sich „ausgesucht“, im dreißigjährigen Krieg geboren zu werden; niemand konnte einen Antrag darauf stellen, inmitten der erweiterten Bewusstwerdung der klimatischen Rahmenbedingungen auf der Erde zu sich zu finden. Zentraler Unterschied: Es dürfen wohl berechtigt Zweifel angemeldet werden, ob damals mit solch‘ einer Hybris das Grundrecht auf die eigene Meinung zum Phallus erhoben wurde. Kann es sein, dass wir hier ein historisches Trauma – die Folgen der Suspension von Grundrechten – in eine futurologische Prophezeiung – wer den Gehalt von Grundrechten überdenkt, wird sie suspendieren – verwandeln?
Überhaupt: Eine Demokratie wird doch lernen können, effektiv zwischen der Suspension von Grundrechten und der Transmutation – also der sachgerechten Anpassung – von Grundrechten zu unterscheiden. Aber wie soll das stattfinden können, wenn jede Transmutation als potenzielle Suspension mit der ganzen Wucht des erhobenen Zeigefingers der Geschichte abgelehnt wird? Wenn sich Querdenker:innen als moralisch überlegen inszenieren und Beifall bekommen, weil sie sich „ihre Grundrechte nicht nehmen lassen“? Dass die Grundrechte dabei primär an das Versprechen eines Nahen gekoppelt sind, das gefälligst so sein soll, wie ich es will, und nicht, wie es mit meiner Um- und Mitwelt resoniert, fällt vor lauter wahrheitsgewandten Auto- und Fremdsuggestionen großzügig unter den Tisch. „Ich lasse mir nichts sagen“ als erste und letzte Gewissheit, als banale Bekenntnis letzter Menschen, allesamt schwer gezeichnet von unbehandelten metaphysischen Metastasen. Aber immerhin mit gutem Gewissen. Auch das hatte Nietzsche kommen sehen.
Das kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Gewiss, Deutschland gilt als „strukturkonservativ“. Dennoch: Dieses Land, diese Menschen, sie können mehr als sich derzeit zeigt. Mehr als die verzweifelte Phrase der „Erhaltung des Wohlstandes“ anzuzeigen versucht, mit Vorliebe geäußert von solchen, die mit seinem Verlust biographisch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht viel zu schaffen haben werden. Wenn das gehen soll, „die Zukunft erfinden“, „auf Technologie statt auf Verbote zu setzen“, dann muss dieses Projekt mit einem Werte- und Bewusstseinswandel einhergehen, der solche „Innovationen“ kulturfähig macht. Dass sie so viel Geld generieren wie die jahrzehntelange Überschwemmung der bewohnten Welt mit Automobilen ist höchst fraglich. Und zweitrangig. Erst einmal geht es darum, unsere Grundrechte nicht zu sichern, um sie ausschließlich in den Dienst unseres Nahen zu stellen, sondern eines unbedingten Gemeinsamen, das unser Blut noch mit denen mischt, von deren Existenz wir nichts wissen. „Innovationsland“, das hieße: „Innovator hinsichtlich der konsequenten Anerkennung des Auftauchens eines unbedingten, naturwissenschaftlich beschreibbaren Gemeinsamen.“ Vielleicht würden die alten deutschen Idealisten sanft von ihren Wolken lächeln angesichts eines endlich belastbaren Absoluten.
28.12.2021
FABIAN ERHARDT