Russlands Krieg oder die Wiederkehr des Tragischen

Weltgeschichtliche Ereignisse kommen fast immer überraschend. Selbst da, wo sie immer schon erahnt worden waren, von den politischen Auguren etwa oder, auf anderem Kriegsschauplatz, von den Klimaforschern. Und in der Regel folgt das Verstehen erst in gehöriger Verspätung. Das gilt vor allem für das philosophische Begreifen, das, einem Wort Hegels zufolge, erst am Abend bei einsetzender Dämmerung den Tag bilanzieren kann: »Die Eule der Minerva beginnt erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug.«

Für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wäre es demnach im Augenblick noch viel zu früh für eine Analyse mit philosophischem Anspruch. Doch zur Gewissheit wird schon jetzt: Mit dem menschlichen Leid, den viel zu vielen Opfern, den eingeäscherten Städten, den traumatisierten Flüchtlingen sind auch tragende Fundamente unseres politischen Zusammenlebens ausgebombt worden. Es fühlt sich alles nach großen Irrtümern an. Tragisch ist vor allem, dass die Unschuldigsten, die Kinder, schwer an der Seele leiden müssen.

Um die Tragik der gegenwärtigen Weltstunde zu erfassen, nehme ich meine Zuflucht bei jemandem, der die Chuzpe hatte, in Jahrtausenden zu denken. Friedrich Nietzsche ließ Hegels Eule schon bei Tageslicht fliegen. Vieles ging ihm dabei daneben, aber manche seiner wuchtigen Klangbilder können heute noch inspirieren, gerade heute in Zeiten des Krieges. Da wäre zum Beispiel seine Diagnose, mit der griechischen Aufklärung sei die europäische Kultur von einer tragischen in eine zwar optimistische, aber zutiefst verflachende Stimmung geraten. Optimistisch-flach sei der Glaube an Aufklärung, Fortschritt und eine Befriedung der Welt durch Handel und Verträge. Optimistisch-flach sei auch die Disziplinierung des Bösen durch Bildung und Kultur. Der moderne Mensch erblicke durch seine apollinische Brille die Welt nur noch in Weichzeichnung. Doch nun: »Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu sein.«

Das ist, mit Verlaub, ein wenig zu laut. Wo bleibt da Raum für das Leid? Eine gegenwärtig überzeugende tragische Figur macht dagegen Robert Habeck. Keinem anderen Politiker ist derzeit der Schmerz so offen ins Gesicht gezeichnet. Er muss seine grünen Werte opfern, um der Gesellschaft den Lebenssaft zu sichern. Sein Kotau vor dem Emir von Katar – das bringt ikonographisch die Tragik zum Ausdruck, dass kein Leben, in soziale Zusammenhänge verantwortlich verstrickt, schuldlos bleiben kann. Ja schlimmer noch: dass es sich bisweilen selbst verraten muss.

Robert Habeck ist, über das Amt hinaus, die bittere Bilanz in persona: Was sind nach der Rückkehr des Krieges in Europa keine Optionen mehr? Keine Option mehr ist der rückhaltlose Glaube an einen zivilisatorischen Fortschritt, der auf eine vernünftige Weltordnung setzt. Keine Option mehr ist ein bedingungsloser Pazifismus. Keine Option mehr sind harmonisierende Konzepte von Kooperation und Verständigung. Und was ist mit dem Weltbürgertum, Immanuel Kants großer Traum, in Zeiten propagandistischer Tiefenwirkung? Und ebenfalls keine Option mehr sind alle gutmenschlich narzisstischen Spiegelbilder, in denen sich – bitte schön! – meine Güte zeigen möge. Jedes Gesicht, mit Ausnahme der Kinder, zeigt Züge selbstverschuldeter Versehrtheit.

Zum Glück ist das nur die eine Seite. Trotz allem gibt es noch tiefe Menschlichkeit in krisenhaften Zeiten. Ja, gerade in Notzeiten kehren die Menschen das Beste in ihnen zuoberst. Da bieten in aufopfernder Bereitschaft viele Bürger den Geflüchteten ein Zimmer in der eigenen Wohnung an. Privat organisierte Hilfskonvois tasten sich über Polen oder die Slowakei bis an die Grenze zur Ukraine vor. Das gesellschaftliche Klima ist wie ausgewechselt. Gestern noch stand so vieles auf Trennung, Kampf und Selbstbehauptung, heute behaupten Großherzigkeit und Selbstlosigkeit die Szene. Notzeiten sind humanitäre Sternstunden, darauf dürfen wir immer wieder vertrauen, das also bleibt eine Option: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch«.

Die eine Seite und die andere. Nüchtern und desillusioniert die eine, wie ein Phoenix aus der Asche steigt dagegen die andere empor. Wie geht beides zusammen? Vielleicht so: Wir dürfen auf unsere selbstwirksamen Kräfte vertrauen, unser Potenzial an europäischer Einigkeit ist größer als erwartet. Aber wir stehen im scharfen Wind der Weltgeschichte. Über die beträchtliche Länge von siebzig Jahren haben wir Mitteleuropäer in Ferienstimmung geschwelgt, haben aus unseren Leben Feste gestaltet, durchaus auch in Erstaunen und Dankbarkeit über die längste Friedenszeit in Europa. (Die Jugoslawienkriege? Erfolgreich verdrängt.) Zwar gestalten sich die Nachkriegsbilanzen aus ostdeutscher Biographie etwas anders, nämlich weniger glänzend, weniger selbstgerecht und weniger blindgläubig in die eigenen Leistungen. Aber auch dort galt der Krieg als eine überwundene Politik von gestern, die Europa jedenfalls nicht mehr heimsuchen werde.

Wie sehr die Realitäten unsere Psyche überrumpelt haben zeigt sich nirgends so deutlich wie an den Reaktionen auf die Kriegssymbolik. Da ist vom heldenhaften Widerstand der ukrainischen Truppen gegen die übermächtige russische Kriegsmaschine die Rede. Im Originalton kommt es direkt vom Kriegsschauplatz, wo junge und auch nicht mehr so junge Männer in Zivil bekennen, man ergebe sich nicht, eher sei man bereit, für das Vaterland zu sterben. Und auch die stehenden Ovationen in den Parlamenten für den eingeblendeten Präsidenten Selenskij haben etwas Rauschhaftes an sich. Gerade noch wurde die Scholz-Regierung in harten Worten gescholten ob ihrer Doppelmoral, und nun applaudiert sie ihrem schärfsten Kritiker. Die Irrationalismen beherrschen das Feld wie weiland 1914, und besonnene Stimmen bemerken, dass die Falken eher im zivilen als im militärischen Apparat vertreten sind. Sind die Ideologen des Krieges gefährlicher als die Handwerker des Krieges? Sie, die Ideologen, sind es jedenfalls, die das Ideologem des »Opfertodes« pflegen. Lange Zeit war es verbrannte Rede mit einem Nachhall aus braunen Tiefen. Fordert ihn die Verteidigungsbereitschaft des ›erstarkten Westens‹ von unseren Töchtern und Söhnen?

Wenn solcherart der scharfe Wind der neuen Realitäten bläst, dann brauche ich als ehemaliger Kriegsdienstverweigerer noch ein wenig Zeit zur Akklimatisierung. Vielleicht aber habe ich immer noch nicht begriffen, dass der Krieg schon längst in unseren Köpfen angekommen ist.

Wie sehr er dort bei manchen wütet zeigte der Auftritt der ukrainischen Sängerin Mariana Sadovska, die kürzlich ins Kanzleramt zu einer Lesung eingeladen worden war. »Wenn die Welt untergeht, weil wir der Ukraine helfen«, sagte sie dem vor Schreck erstarrten Publikum, »dann soll es halt so sein!«

11.04.2022

PETER VOLLBRECHT