Kein Pappenstiel

Der Ford Explorer zwängt sich noch so eben durch die schmale Einfahrt, parkt mitten im Garagenhof. Herr X steigt aus, begrüßt die dort Wartenden, mich zuletzt. Zu diesem Zweck rückt er ganz nah an mich heran, berührt mich fast, so dass ich unweigerlich im spitzen Winkel emporblicken muss, zu ihm, dem Zwei-Meter-Mann. Eine Drohgebärde, wie ich sofort begreife, als der knappen Begrüßung harsche Worte folgen – über inadäquate Garagennutzung und unerlaubtes Rauchen auf dem Balkon. Das sind nur zwei der Streitpunkte, um die es in der nun folgenden „Besprechung“ unter ca. 15 Garageneigentümern gehen soll. Was geschieht? – In Sekundenschnelle brodelt der Kessel, Angriffslust und unbeirrbare Voreingenommenheit machen umgehend jeden Versuch einer ruhigen Klärung zunichte. Wer darum bemüht ist, ernsthafte Argumente vorzubringen bzw. vermeintliche Fakten einer Überprüfung zu unterziehen, muss sich nach wenigen Silben geschlagen geben. Ausgebremst nicht etwa durch stichhaltige Gegeneinwände, sondern allein durch das vielstimmig-aufgebrachte Geschrei derjenigen, die neben ihrer Garage auch die Wahrheit längst schon unwiderruflich in Besitz genommen haben. Im Wust umherprasselnder Wortfetzen manifestiert sich rasant ein Triumph fraglicher Affektlagen, die jeden Versuch kooperativer Interessenabstimmung ad absurdum führen: Trotz eindeutiger Gegenbeweise sucht da z. B. ein älterer Herr seinen Unterstellungen Geltung zu verschaffen, indem er dieselben in stakkatoartiger Wiederholung brüllend hervorstößt; die Dame neben ihm schießt vergiftete Pfeilspitzen ins „feindliche“ Lager – Bemerkungen, die rein gar nichts zur Sache tun, dafür aber die Person des anderen kompromittieren sollen; ein dritter offenbart, fernab aller rechtlichen Möglichkeiten, seine Zukunftsphantasmagorie, in der endlich das Eigentum der anarchistischen Balkonpiefer und Garagenhoffrickler dem Erdboden gleichgemacht ist.

Gelegenheiten wie diese zeigen: Alternative Fakten sind kein Privileg us-amerikanischer Beraterinnen, auch ist es nicht nötig, Pegida-Versammlungen oder AfD-Kundgebungen aufzusuchen, um sich einen Eindruck von der allgegenwärtigen menschlichen Bereitschaft zu verschaffen, inbrünstigen Überzeugungen anzuhängen und dabei jedwedes Sachargument in den Wind zu schießen. Gewiss begleiten derartige Impulse das menschliche Geschlecht schon seit jeher, und dennoch lässt sich unschwer ein deutlicher Klimawandel innerhalb der letzten Jahrzehnte ausmachen. Mittlerweile haben wir es mit einer Gemengelage zu tun, die verbohrtes Beharren auf unwahren Tatsachenbehauptungen immens zu begünstigen scheint, so dass der menschlichen Neigung zu aggressiver Selbstgerechtigkeit Tür und Tor geöffnet wird.

Vieles greift hier ineinander: zum einen ein hoch gepuschter Persönlichkeits- und Selbstdarstellungskult, der das fragile Ich unablässig mit Statusängsten traktiert; zum anderen eine zunehmend komplexe, unübersichtliche Lebenswelt, in der bereits für banale Alltagsthemen und einfache Sachfragen Spezialkenntnisse vonnöten wären. – So verlangt z. B. ein schlichter Vergleich der Zuschaueranzahlen bei der Amtseinführung amerikanischer Präsidenten, über den bloßen Augenschein hinaus ein Grundwissen bezüglich der Erhebung empirischer Daten. – Unter diesen Voraussetzungen mutiert der Zornaffekt zur Maske uneingestandener Macht- und Orientierungslosigkeit. Eine Mentalität des Zurückschlagens usurpiert das Gemüt.

Verstärkend wirkt, wie ich meine, noch etwas Weiteres, nämlich eine postmoderne, relativistische Lebenseinstellung, hervorgegangen aus der Skepsis westlicher Intellektueller gegenüber großen Narrativen, vornehmlich aber gegenüber jeder Überlegenheitsanmaßung des Abendlandes, die sich mit universellen Ansprüchen verbindet – seien es die Gewissheiten wissenschaftlicher Rationalität oder seien es die Forderungen der Menschenrechte. In solcher Wahrheitsabstinenz der intellektuellen Avantgarde erblickt Carlo Strenger „ein phänomenales Eigentor“ politischer Korrektheit. Diese offenbare sich in einer Art mentaler Einschüchterung, welche – sensibilisiert durch kulturelle Unterschiede sowie zugleich beschämt durch Vergangenheitssünden westlicher Politik – jede Form der Kritik an anderen Kulturen unterlässt, aus Angst des eurozentrischen Imperialismus bezichtigt zu werden. Zu dieser Haltung wäre noch vieles zu sagen – ich empfehle Strengers Buch.

Entscheidend für mein Garagenhoferlebnis erscheint mir Folgendes: Derartige Haltungen, die sich zunächst innerhalb des Intellektuellenmilieus herausgebildet haben, durchtönen und besetzen inzwischen unmerklich das kollektive Alltagsbewusstsein. Gibt es nämlich weder eine Aussicht auf Faktengewissheit noch eine Minimalbasis unhintergehbarer Werte, so scheint jedes zähe Ringen und vernünftige Debattieren um faire Einschätzungen vergeblich. Deshalb konsultieren viele lieber sogleich ihr Bauchgefühl als Quelle überlegener Erkenntnis. Welche Eingebungen sie auch immer in sich aufspüren, alles scheint irgendwie berechtigt und darf in die Welt hinausposaunt werden. Man empört sich ungeniert, schreit herum und schwingt die Fäuste, ohne noch im Mindesten abklären zu wollen, ob das Objekt der rasenden Wut nicht möglicherweise nur eine Chimäre darstellt, welche keiner vernünftigen Überprüfung Stand halten könnte. Vermeintlich „gerechter“, brennender Zorn reicht aus, um restlos überzeugt zu sein. Unnötig nachzuhaken, was ihn entfacht hat: Scheintatsachen vielleicht, oder blankes Eigeninteresse? Oder aber tatsächlich das Streben nach einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit?

Spontane Affekte, die auf vagen Annahmen oder gekränkten Eitelkeiten basieren, verstetigen sich nur allzu leicht zu schwelendem Groll und Hass – zu heiklen Stimmungslagen also, die derzeit in den Reihen ganz normaler Bürger in Umlauf geraten sind. Dies konnte ich im wenig spektakulären Hinterhof hautnah miterleben. „Man“ sprach so, als gäbe es immer schon etwas zu vergelten, als sei der eigenen Person schwere Herabsetzung, ja Demütigung widerfahren, so als gäbe es ein gravierendes Vergehen, das unverzügliche Bestrafung der Täter gebietet. Doch wer sind die Täter? – fragte ich mich, da die unmittelbar adressierten Personen aus meiner Sicht ganz offensichtlich nicht dafür in Frage kamen. Was also wirkte hier? War es jener unerbittlich-leistungsorientierte Zeitgeist, der in uns allen unmerklich zur zweiten Natur geronnen ist und dem Selbst die Luft zum Atmen nimmt? Oder zeigten sich hier späte Effekte eines moralischen Sadismus der Erziehung, d. h. Effekte jener alt bekannten, vielfach modifizierten und dennoch beständig vitalen schwarzen Pädagogik, die Kinder zu Vasallen elterlichen Ehrgeizes macht? Wurden die Keime dieser Wut, die ich deutlich fühlte, womöglich früh gesät? Ich konnte es nicht mit Gewissheit sagen. Was ich erlebte, war schroffes unnachgiebiges Verhalten, das eine quasi kindische Abneigung zeigte, irgendein Unrecht einzugestehen.

Eines jedoch war nicht zu leugnen. Befremdet durch mein Nichtverstehen dieser blinden Wut, musste ich höllisch aufpassen, mich nicht vorschnell besser oder überlegen zu wähnen: etwa die eigene sensible Differenziertheit hochtrabend gegen die Grobheit der anderen zu stellen oder gar eine Haltung einzunehmen, in der man den eigenen reaktiven Zorn verleugnet und großmütig vergebend über der Arena schwebt. Ich begann zu ahnen: Auch ein Hang zu demonstrativer Sanftmut kann dem Vergeltungswunsch entspringen.

Die Situation war hochdiffizil. Vorerst musste ich mich zu einer allgemeinen Einsicht retten. Denn mehr denn je verstand ich nun, dass an Vorankommen unter uns Menschen nur dann zu denken ist, wenn wir uns sehr gezielt einer Kultur des Emotionalen zuwenden. Das ist kein Pappenstiel, denn dies müsste auf allen Ebenen institutioneller Bildung in grundlegender Weise angegangen werden – ohne dabei sogleich auf den Mehrwert für die heiß umworbenen MINT-Fächer zu schielen. Wir brauchen, wie ich im Einklang mit vielen anderen Denkern meine, die Gegenkraft einer neuen „philosophischen“ Kultur – zu verstehen als konsequentes Einüben eines selbstreflektierten Wertedenkens. Es geht um Formen mentalen Trainings, welche auch die Konfrontation mit weniger schmeichelhaften inneren Regungen nicht umschiffen – mit jenen dunklen Impulsen also, die das seelische Gleichgewicht seit jeher massiv bedrängen. Neben Neid und Gier erschüttern Zorn, Angst- und Ohnmachtsgefühle unser Herz – heute vielleicht mehr denn je, sowohl auf der großen politischen Bühne als auch in den kleinen Privattumulten und banalen Hinterhofquerelen. Im Extremfall aber sehen wir dieses „Herz“ in die irrwitzigsten Abgründe inhumaner Vergeltung und Selbstvergewisserung hinabstürzen. Derartige Exzesse verlangen  tiefgreifendes Umdenken. Demokratische Appelle allein genügen längst nicht mehr.

22.06.2017

HEIDEMARIE BENNENT-VAHLE