Kolumnen

Was uns Mut macht

Der Mut scheint gerade uns, die wir das Denken zum Beruf gemacht haben, angesichts immer neuer Rückschläge im Kampf um moralischen Fortschritt zu verlassen. Was macht uns Mut? Die Schwere der Zeiten fordert diese Frage geradezu heraus, sie begegnet mir in dieser oder anderer Form ständig. Ist es nicht zum Verzweifeln?

Als Philosoph drängen sich mir statt einer Antwort quasi naturgemäß sofort weitere Fragen auf – die wichtigste: Was ist überhaupt Mut?

Platon schildert im Dialog Laches, wie Sokrates im Gespräch mit vermeintlichen Mut-Experten – Nikias und Laches, zwei erprobten Feldherren, die dabei zusehen, wie ihre Söhne im Fechten unterwiesen werden – bei der gemeinsamen Suche nach einer Definition schnell über deren rasch hervorgeholte Gewissheiten ins Zweifeln kommt. Ist Standhalten immer tapferer als Fliehen? Macht den Mut nicht gerade aus, dass man weiß, wo Furcht und Zuversicht angebracht sind, und dies sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft? Letztlich entdecken sie, dass auch Besonnenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit zum richtigen Mut erforderlich wären – die ganze Tugendpalette also. Das kann nur in der Aporie enden – am Schluss wissen weder die Experten noch der Philosoph, was Mut genau sein soll.

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Wider die Bösartigkeit. – Warum allein das Gute einen Wert hat.

Auf die Frage, mit welchen Begriffen sich unsere Gesellschaft derzeit beschreiben lässt, fällt in einer aktuellen Umfrage eine Antwort besonders ins Gewicht. Über 80% der Befragten sehen unsere Gesellschaft als „gespalten“ an. Zerklüftungen und Zersplitterungen, Uneinigkeit und Empörung, wo auch immer wir hinschauen – je mehr Krisen und Erschütterungen, Sorgen und Ängste Thema gesellschaftlicher Debatten sind, desto tiefer die Gräben. Berechtigt, notwendig, aufgebauscht, überzogen oder auch nicht – ebendiese Gräben werden in der politischen Landschaft und der medialen Debatte mit großem Eifer weiter ausgehoben, zementiert und oft genug durch rechtspopulistische Vereinfachungen in unterkomplexe Denkmuster eingebettet. Tatsachen, Fakten oder gar konstruktive Lösungen – nicht so wichtig. Das „Dagegen“ ist es, was zählt. In verbale Entrüstung gehüllt, der es viel zu oft gelingt, auf der Grenze dessen zu tanzen, was sich rechtlich ahnden ließe. Im Bundestag, in Fernsehinterviews, auf Wahlplakaten oder in den sozialen Medien, bösartige Unterstellungen, listiges Grinsen und das Vokabular scheinbarer Fürsorge für die große Masse der Unverstandenen. Eine besondere Form der Bösartigkeit, die sich manchmal schleichend, manchmal ganz offen und lautstark ihren Weg sucht und immer mehr Wähler*innen für sich zu gewinnen scheint. Warum ist das so und haben wir es hier wirklich mit dem Phänomen des „Bösen“ zu tun?

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Die resonante Kraft hörender Herzen.

Der Blick aus dem Fenster lässt keine Zweifel, es dämmert bereits am späten Nachmittag, der Himmel kennt nur noch eine Variation von Grautönen und beginnt, sich schon am frühen Abend schwarz zu färben – die dunkle Jahreszeit macht ihrem Namen alle Ehre. Und auch die Gedanken werden nicht selten dunkler, zumindest hier und da ein wenig schwerer. Im November wird wie in keinem anderen Monat der Vergänglichkeit gedacht, der Totensonntag als letzter Sonntag des Kirchenjahres ruft noch einmal all die Menschen in Erinnerung, deren Leben zu Ende gegangen ist.

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Russlands Krieg oder die Wiederkehr des Tragischen

Weltgeschichtliche Ereignisse kommen fast immer überraschend. Selbst da, wo sie immer schon erahnt worden waren, von den politischen Auguren etwa oder, auf anderem Kriegsschauplatz, von den Klimaforschern. Und in der Regel folgt das Verstehen erst in gehöriger Verspätung. Das gilt vor allem für das philosophische Begreifen, das, einem Wort Hegels zufolge, erst am Abend bei einsetzender Dämmerung den Tag bilanzieren kann: »Die Eule der Minerva beginnt erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug.«

Für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wäre es demnach im Augenblick noch viel zu früh für eine Analyse mit philosophischem Anspruch. Doch zur Gewissheit wird schon jetzt: Mit dem menschlichen Leid, den viel zu vielen Opfern, den eingeäscherten Städten, den traumatisierten Flüchtlingen sind auch tragende Fundamente unseres politischen Zusammenlebens ausgebombt worden. Es fühlt sich alles nach großen Irrtümern an. Tragisch ist vor allem, dass die Unschuldigsten, die Kinder, schwer an der Seele leiden müssen.

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Wohl dem Land das keine Helden braucht

Am Ende seines Dramas Leben des Galilei lässt Bertolt Brecht den Studenten Andrea Sarti sagen: „Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“ Die berühmt gewordene Antwort Galileo Galileis folgt auf dem Fuß: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“

Der Tag, da ich diese zwei Sätze bedenke, ist der sechste Tag nach dem Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine. „Putins Krieg“ heißt es in weiten Teilen der Welt.

Längst leben wir in einer vielfach verflochtenen, vernetzten, verstrickten einen Welt. Da geht es nicht mehr nur um Länder, Nationen und Grenzen, es sei denn, dass man sich auf eine völkerrechtliche oder geopolitische Perspektive beschränkt. Vielleicht ist einer der größten Unterschiede zwischen Putin und Selenskyj, dass der eine den Globus im Blick hat, der andere Menschen, für die er Verantwortung trägt. Beruf und Umfeld mögen gewählt sein oder einfach prägen, beides wohl – und einiges mehr kommt dazu.

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Formatprobleme

Ein recht bekannter Satz lautet: „Die Liebe geht, die Hobbys bleiben.“ Übertragen auf unsere gegenwärtige gesellschaftliche Situation ließe sich bemerken: „Die Regierung geht, die Probleme bleiben.“ Seit wir mithilfe eines globalen Netzes an seriöser Wissensproduktion dem tatsächlichen Ausmaß dem Klimawandel auf der Spur sind, markiert die Bemerkung den status quo nationaler Ausgangslagen. Der Spielraum der Ignoranz schrumpft – umso trotziger die Haltung derer, die gemeinsamen Fortschritt und Re-Justierungen der persönlichen Lebenspraxis als Zumutungen erleben. Unzählige Menschen machen heutzutage neumalklug von skeptischen Argumenten Gebrauch, die auf die eine oder andere Weise auf die Relativität all unserer Wissensansprüche zielen, um auf ihr „Bauchgefühl“, ihre „Intuition“, oder ihre „Recherchen“ hören zu dürfen. Einst waren die Götter – später der eine Gott – das Ziel tiefsinniger Apologien; heute sind es die eigenen Meinungen, deren Infragestellung einem Sakrileg gleicht.

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Vielstimmige Harmonie

Kaum tanzen die ersten Schneeflocken in der Luft, da taucht auch sie wieder auf. Pünktlich zur Adventszeit meldet sie sich leise, doch unüberhörbar: die Sehnsucht nach Harmonie, nach wärmendem konsonantem Einklang, nach kaminfeuerkuscheligem Friede-Freude-Eierkuchen. Dem Wunsch zum Hohn scheint beim Blick durch den Bildschirm nach draußen die endgültige Spaltung der Gesellschaft über kritischen aktuellen Fragen wie der Pandemiebekämpfung, sozialer Gerechtigkeit und dem Umgang mit dem Klimawandel zu drohen. Dissonante Stimmen verschaffen sich lautstark Luft. Die Politik sucht verzweifelt nach Lösungen. Zerwürfnisse spiegeln sich bis in die Familien.

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„How fragile we are!“

Ich hätte nicht gedacht, heute noch einmal im dichten Flockenwirbel übers Feld zu gehen. Schon dreimal nahm der Frühling Fahrt auf und veranlasste mit gewagten Temperaturen Primeln und Löwenzahn dazu, arglos ihre leuchtenden Blüten zu entfalten. Nun breitet sich eine frostig-weiche Schneeschicht darüber, die alle Farben verhüllt und den Vögeln Schweigen gebietet. Verhaltenes Piepsen hier und da, während Wildgänse und Entenpaare irgendwie ratlos am Bachufer herumstaksen, mit gedämpftem Elan und doch – wie mir scheint — in still harrender Duldsamkeit.

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„R-Wert“ und „Wahrheit“

Das Buch „Die Welt im Fieber“ der britischen Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney, 2018 zum hundertsten „Geburtstag“ der spanischen Grippe erschienen, kann als Meilenstein der Beweisführung dafür gelten, dass eine Pandemie ohne dazugehörige Infodemie nicht zu haben ist. Diese schlägt sich selbst im Namen dieser letzten großen respiratorischen Seuche wieder: Ihr Ursprung liegt wahrscheinlich in einem US-Militärcamp in Kansas, unter Umständen sind wir auch in der Verlegenheit, ihn nicht genau lokalisieren zu können. Dass sie aus Spanien kommt, gilt als ausgeschlossen.  

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Stolpernde Einsichten und Knitterfalten des Denkens.

Es war nur eine Postkarte über einem Schreibtisch, eine Postkarte, die in einem Interview erwähnt wurde – selbst ohne jede Bedeutung, sondern eher um eine Geisteshaltung des Interviewten zu illustrieren, die den Interviewer offensichtlich irritierte. Wer diese beiden Gesprächspartner waren, habe ich vergessen. Es war und ist nicht wichtig: „Ich habe kein Recht auf die Konsequenzen meines Tuns“ – das stand auf dieser Karte. Zunächst überlas ich diesen Satz und wollte mich auf den Weg in den nächsten Absatz machen, stockte dann aber, stolperte über meine eigenen Gedanken, die sich nicht mehr sicher waren, welchen Weg sie nehmen sollten. Was war passiert?

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