Was uns Mut macht

Der Mut scheint gerade uns, die wir das Denken zum Beruf gemacht haben, angesichts immer neuer Rückschläge im Kampf um moralischen Fortschritt zu verlassen. Was macht uns Mut? Die Schwere der Zeiten fordert diese Frage geradezu heraus, sie begegnet mir in dieser oder anderer Form ständig. Ist es nicht zum Verzweifeln?

Als Philosoph drängen sich mir statt einer Antwort quasi naturgemäß sofort weitere Fragen auf – die wichtigste: Was ist überhaupt Mut?

Platon schildert im Dialog Laches, wie Sokrates im Gespräch mit vermeintlichen Mut-Experten – Nikias und Laches, zwei erprobten Feldherren, die dabei zusehen, wie ihre Söhne im Fechten unterwiesen werden – bei der gemeinsamen Suche nach einer Definition schnell über deren rasch hervorgeholte Gewissheiten ins Zweifeln kommt. Ist Standhalten immer tapferer als Fliehen? Macht den Mut nicht gerade aus, dass man weiß, wo Furcht und Zuversicht angebracht sind, und dies sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft? Letztlich entdecken sie, dass auch Besonnenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit zum richtigen Mut erforderlich wären – die ganze Tugendpalette also. Das kann nur in der Aporie enden – am Schluss wissen weder die Experten noch der Philosoph, was Mut genau sein soll.

Aristoteles gibt nicht so leicht auf und bestimmt in der Nikomachischen Ethik den Mut als eine durch Einübung erworbene Grundhaltung, die in der richtigen Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit angesiedelt ist. Zum mutigen Menschen wird man durch wiederholtes mutiges Handeln.

Tapferkeit ist dabei eben nicht einfach verwegene Furchtlosigkeit; Furcht kann durchaus begründet sein, muss jedoch manchmal überwunden werden, denn es geht auch um das Standhalten im Gegenwind. Aristoteles definiert: „Wer mutig ist, der ist unerschrocken in dem Sinne, wie es sich für einen Menschen ziemt. Er wird also auch Dinge … fürchten; aber er wird, wie es Pflicht und Vernunft gebietet, sich ihnen unterziehen, wo es ein moralisches Gut zu wahren gilt; ….“

Zornesaufwallungen aus Schmerz oder Gereiztheit können nicht als mutig gelten, wenn sie nicht edle Ziele verfolgen; Leidenschaft hilft nur unter dieser Prämisse, sonst handelt es sich um pure Streitlust. Auch „thymotische Gefühle“, wie sie Peter Sloterdijk in Zorn und Zeit nennt, die oft genug aus verletztem Stolz oder langer Unterdrückung erwachsen, genügen alleine nicht, sonst behält gerne die Ausdeutung von „schön, stark und mutig“ recht, an die ich mich als Bonmot für Unsinnsaktionen aus meiner Jugend erinnere: Schön gegen die Wand gelaufen, stark zurückgeprallt und mutig wieder angelaufen.

Doch der heitere Ton vergangener Zeiten lässt sich angesichts der aktuellen Weltlage leider nicht halten. Ob wir jemanden mutig nennen, hängt offenbar nicht nur vom angemessenen Verhalten, sondern wesentlich vom Zweck seines Einsatzes ab, davon, welchen moralischen Wert wir diesem zuschreiben.

Das markerschütternde und in unerträglichen Bildern dokumentierte Massaker der Hamas-Terroristen vom 7.10. nennen wir trotz allem den Palästinensern seit Jahren widerfahrenden Unrechts zu Recht einen feigen, hinterhältigen Anschlag, doch ihre fanatischen Anhänger stilisieren selbst sie als tapfere Kämpfer, die auch ihr Leben riskiert und oft genug verloren haben. Aber welcher guten Sache sollte ein Abschlachten von unschuldigen Zivilisten, Frauen und Kindern dienen können?

Für mich wären eher Kibbuznikim mutig, die sich den Angreifern entgegengestellt haben, um ihre Angehörigen zu schützen; oder Palästinenserinnen, die womöglich versuchten, den Anschlag zu verhindern – vielleicht sogar israelische Soldat*innen, die sich im Gaza-Streifen in höchste Gefahr begeben, soweit es ihnen darum geht, Geiseln zu befreien und die Infrastruktur der Hamas zu zerstören und damit Frieden zu ermöglichen. Gerade dabei zeigt sich bereits die äußerst schwierige Problematik der Verhältnismäßigkeit der Tugend und fordert den Appell, mit möglichst kühlem Kopf zu agieren und keinesfalls blinden genozidalen Rachegelüsten nachzugeben. Sie sollten nicht vergessen, dass sie auch für diejenigen Palästinenser kämpfen, die unter dem Terrorregime in Gaza leiden und die die Partner eines zukünftigen Friedens sind.

Mut bedarf demnach begleitenden multiperspektivischen Nach- und Voraus-Denkens, nicht nur im Maß, sondern auch in den Anwendungsbereichen und besonders im Hinblick auf das Gute, dass er zu erreichen anstrebt. Damit kehren wir zurück zur Ausgangsfrage danach, was uns Mut macht: Mut bedarf nicht nur der Reflexion, er speist sich auch aus ihr: Um mutig zu sein, müssen wir das Ziel, für das wir uns einsetzen, als sinnvoll anerkennen, als etwas, das wichtiger ist als unser Wohlbefinden und unsere Bequemlichkeit, im Extremfall sogar als unsere Gesundheit und unser Leben. Aus einer bewussten, tief bewegenden Vorstellung des Guten heraus lässt sich die Motivation entwickeln, eigene Ängste und Unsicherheit zu überwinden. Mut hat nur Sinn, wenn er Werte anstrebt, doch dann macht der darin enthaltene Sinn auch Mut.

Was uns Mut verleiht, können Ideale sein, wie die Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben; am besten aber kluge konkrete Utopien im Sinne Ernst Blochs, die anschlussfähig sind und die positiven Zeittendenzen aufnehmen und verstärken. Denn auch die „Mut-willigen“ sind gut beraten, ihre Kräfte realistisch einzuschätzen und taktische Erwägungen nicht außer Acht zu lassen, damit ihre Anstrengungen nicht verpuffen und in sinnlosem Märtyrertum enden.

Als Philosophierenden muss es uns vor allem um den Mut der Aufklärung gehen: Menschen dazu zu ermuntern, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, d.h.: aus der blinden Emotionalisierung herauszufinden ins Nachdenken, in die Analyse, um dem Impuls zu widerstehen, sich nur schnell auf eine Seite zu schlagen und eine Meinung vehement zu vertreten und zu verteidigen, bevor wir uns überhaupt eine Meinung bilden konnten. Reflexion statt Reflex hieße die Devise. Das Mütchen muss oft erst einmal gekühlt werden.

Unsere Aufgabe benennt Kant, wenn er in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ daran erinnert, dass beim öffentlichen Gebrauch der Vernunft Selbstdenkende (die wir hoffentlich sind) helfen können, „den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu denken, um sich [zu] verbreiten“. Nicht Besserwisserei und intellektuelle Prophetie ist gefragt, sondern Impulse zum Innehalten und Aufrufe zum Denken.

Aus dem Anschauungsmaterial denkwürdiger Fußballspiele wissen wir: Der Mut einzelner, die sich ein Herz fassen, kann eine ganze Mannschaft mitreißen und ein Spiel drehen. Zur Unterstützung ist es hilfreich, den Blick auf Vorbilder, Mitstreiter und Anzeichen positiver Entwicklungen zu richten, wenn die eigene Überzeugung nicht mehr ausreicht, um uns Mut zu machen. Wir sind ja nicht allein mit unseren Vorstellungen von Frieden und Freiheit, von einem friedlichen Miteinander der unterschiedlichen Identitäten und Kulturen.

Und tatsächlich selbst in dieser hochemotionalisierten Lage in Nahost vernehmen wir aus allen vermeintlichen Lagern Stimmen, die vom Denken nicht lassen und den Weg einer Versöhnung nicht aufgeben wollen, hier vier willkürliche Beispiele aus der Diskussionslandschaft in Deutschland:

Omri Boehm und Susan Neiman, Philosoph und Philosophin mit jüdischem Hintergrund, die sich trotz ihres Schmerzes und ihrer Sorgen um ihre israelischen Verwandten und Freund*innen einer einseitigen nationalistisch-jüdischen Ideologie und dem blanken Rachegedanken kritisch widersetzen und versuchen, Zukunftsperspektiven anzumahnen und aufzuzeigen.

Die deutsche Rechtsanwältin türkisch-kurdischer Abstammung Seyran Ateş (Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin) und der palästinensisch-stämmige Psychologe Ahmad Mansour (Gründer einer Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention), die sich öffentlich eindeutig gegen radikalen Islamismus und Antisemitismus positionieren. Sie brauchen allen Mut – und dazu noch handfesten Personenschutz gegenüber radikalen antisemitischen Islamisten – nur weil sie neben eindringlichen Hinweisen auf die humanitäre Notlage im Gaza-Streifen auch den Hamas-Terror unmissverständlich verurteilten.

Versuchen also auch wir guten Mutes zu sein (des Mutes, der das Gute anstrebt), ohne allzu gutmütig und naiv zu vieles zu tolerieren, und schöpfen wir diesen Mut aus jenem winzigen Rest von Hoffnung jenseits jeglichen Optimismus‘ – aus der Erfahrung, doch immer wieder mit anderen ins gemeinsame Nach- und Weiterdenken kommen zu können. Die 102jährige Holocaust-Überlebende Margot Friedländer wurde im Interview im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung nach ihrer Hoffnung befragt. Ihre Antwort ist ein vollständig desillusionierter Mutmacher:

Glaubt Margot Friedländer daran, dass der Mensch lernen kann? Ist sie optimistisch, dass sich schließlich alles zum Besseren entwickelt? … „Nein. Leider nicht. Ich habe das gehofft, aber ich glaube es nicht.“ Und warum macht sie das dann alles? Warum geht sie immer noch, mit über hundert Jahren, an Schulen, redet vor Klassen, vor Politikern, hat jetzt an diesem Film mitgewirkt, gibt Interviews?
Sie guckt einen lange an. Und sagt dann: „Man muss es doch wenigstens versuchen.“

23.11.2023

LUDGER PFEIL