Russlands Krieg oder die Wiederkehr des Tragischen

Weltgeschichtliche Ereignisse kommen fast immer überraschend. Selbst da, wo sie immer schon erahnt worden waren, von den politischen Auguren etwa oder, auf anderem Kriegsschauplatz, von den Klimaforschern. Und in der Regel folgt das Verstehen erst in gehöriger Verspätung. Das gilt vor allem für das philosophische Begreifen, das, einem Wort Hegels zufolge, erst am Abend bei einsetzender Dämmerung den Tag bilanzieren kann: »Die Eule der Minerva beginnt erst bei einbrechender Dämmerung ihren Flug.«

Für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine wäre es demnach im Augenblick noch viel zu früh für eine Analyse mit philosophischem Anspruch. Doch zur Gewissheit wird schon jetzt: Mit dem menschlichen Leid, den viel zu vielen Opfern, den eingeäscherten Städten, den traumatisierten Flüchtlingen sind auch tragende Fundamente unseres politischen Zusammenlebens ausgebombt worden. Es fühlt sich alles nach großen Irrtümern an. Tragisch ist vor allem, dass die Unschuldigsten, die Kinder, schwer an der Seele leiden müssen.

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Die Rechte der Natur

Seit der Publikation der »Grenzen des Wachstums« (Denis Meadows/Club of Rome) im Jahr 1972 haben viele Staaten umweltpolitische Maßnahmen in Gesetzen verankert. Doch den fortschreitenden Trend zur Kontamination der Umweltmedien (Wasser, Luft und Böden) wie auch zum großen Artensterben haben sie nicht umkehren können. Die Gründe dafür sind bekannt. Auch die Hoffnungen, es könnten freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie, des Handels und des Konsums eine Trendumkehr bewirken, haben sich als substanzlos erwiesen. Gegenwärtig setzen die Politik und die Wirtschaft auf smarte Technologien, mit denen der Verbrauch an natürlichen Ressourcen reduziert werden soll. Doch bislang hat sich jeder technische Fortschritt als energiehungrig erwiesen.

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Die Kunst des Wegsehens

Vor vierhundert Jahren forderte Galileo Galilei die Philosophen der Universität Padua auf, durch sein selbstgebautes Fernrohr zu schauen, um die Jupitermonde zu betrachten. Nicht weniger als das letzte kosmologische Privileg der Erde stand auf dem Spiel. Denn auch wenn unter den Gelehrten Europas weitgehend Einigkeit herrschte, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht, so könne sich wenigstens kein anderer Himmelskörper mit einem Mond schmücken.

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Angst

Ja, geben wir es uns zu, wir haben Angst. Überwiegend gilt sie nicht unserer eigenen Gesundheit, die jüngeren unter uns lassen kaum ja Symptome aufkeimen, und die Infektionsraten des Corona-Virus liegen immer noch im Promille-Bereich. Die Anderen sind nur statistisch gesehen eine Bedrohung. Aber diese ferne Bedrohung mutiert zu Angst-Szenarien an den Regalen der Supermärkte, der Börsenkurse, der einzelnen ungeschützten Existenzen von den Gastwirten bis zur Kreativwirtschaft. Die Angst frisst sich durch alle Bereiche unseres Lebens. Irgendwie ist etwas gewaltig in Unordnung geraten. Wir haben Angst um die Stabilität unseres Systems. Ganze Wirtschaftszweige können jetzt wegbrechen und für viele Jahre von der Bildfläche verschwinden. Die Welt von morgen, plötzlich können wir sie uns nicht mehr vorstellen. Aber gewiss ist, dass sie eine ganz andere Welt sein wird als die, die wir gewohnt sind. Weiterlesen Angst

Müssen wir uns des Reisens schämen?

In den heißesten Tagen dieses Sommers ging es wieder auf Motorradtour. Sechs Tage, über die Großglockner-Hochalpenstraße nach Schloss Duino an die Adria, von dort durch die Dolomiten und über viele kurvige Pässe zurück. Insgesamt verbraucht: 80 Liter Benzin, diverse Plastikflaschen Mineralwasser und ja, Fleischgerichte waren auch dabei. Altherrentour zu zweit wie jedes Jahr, ein Stück gelebter Freiheit, die nur Bikerinnen und Biker nachempfinden können. Und genau diese Exklusivität macht die Motorradfreiheit auch ein wenig verdächtig.

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Der Blick aus dem Orbit

Im Dezember 1972 drückte der Astronaut Harrison Schmidt auf den Auslöser seiner Hasselblad-Kamera und schoss aus 45.000 Kilometern Entfernung ein Bild von der Erde. Nahezu wolkenfrei zeigt sich der afrikanische Kontinent vom Mittelmeer bis zum Kap der Guten Hoffnung, über dem Südpolarmeer tanzen weiße Wolkenfedern um die verschneite Antarktis. Blue marble, die Erde als eine blaue Murmel, das berühmteste aller Fotos von unserem Planeten.
Diese Bilder sind möglicherweise die wichtigsten Mitbringsel der Astronauten von ihren Mondflügen. Sie haben unseren Blick auf unser eigenes kosmisches Quartier verändert.

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Die letzten Trümpfe der Menschheit

Manchmal überfällt mich nachts ein Schemen, ein Bild, ein Gedanke gar und reißt mich aus dem Schlaf. Dann formt sich, scheinbar von ganz allein, ein Text. Heute Morgen um fünf Uhr öffnete sich das Fenster der Erinnerung und ich saß mit zwei Gästen in meiner Wohnung in New Delhi. Beide waren zu Kurzzeitdozenturen an die Universität gekommen, wo ich als DAAD-Lektor deutsche Kultur und Philosophie unterrichtete. Der Leibniz-Kenner Hans Poser von der Freien Universität Berlin war der eine, den Namen des anderen erinnere ich nicht mehr, wohl aber, dass ich von ihm tief beeindruckt war, weil er seine Auszeit von akademischen Pflichten mit der Lektüre von Thomas Manns Joseph-Roman füllte. Und klar und deutlich stieg mir heute Nacht das Thema jenes Abends vor Augen. Vor einem Vierteljahrhundert machte eine neue ökologische Idee die Runde: das Handeln mit CO2-Zertifikaten. Weiterlesen Die letzten Trümpfe der Menschheit

Wo sind wir, wenn wir lesen?

Keine Messe erfreut sich einer solch‘ medialen Aufmerksamkeit wie die der Bücher. Doch es sind nicht etwa triumphale Umsatzrekorde, die Schlagzeilen machen, eher umtreibt die Branche die Sorge um ein altehrwürdiges Kulturgut. Denn jedes Mal begleiten klagende Töne der Verleger die Gipfeltreffen in Leipzig und Frankfurt: es werde immer weniger gelesen! Eine Ermahnung an Elternhaus, Schule und Universität, ja an die Gesellschaft überhaupt: Mit dem Lesen stehe und falle die Mündigkeit des Bürgers. Eine Zivilgesellschaft ohne Leser? Undenkbar!

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Seid neugierig! Zum Tod von Stephen Hawking

Er spricht mit einer Stimme flirrenden Metalls. Sein Kopf ist zur Seite gesunken, der Unterkiefer hängt, als sei er aus dem Mund gefallen, keinen Muskel kann er mehr bewegen. Als er, schon längst an den Rollstuhl gefesselt, durch einen Luftröhrenschnitt seine Stimme verlor, kommunizierte er mit der Wissenschaftsgemeinschaft über seinen Sprachcomputer, zunächst kommandierte er ihn mit seiner schwachen Hand, und als die ihren Dienst versagte, mit seinem Augenspiel. Er ließ sich einfach nicht unterkriegen, seine Krankheit habe ihm die Augen dafür geöffnet, was er mit seinem Leben noch alles anfangen wolle, schrieb er einmal über sich.  Weiterlesen Seid neugierig! Zum Tod von Stephen Hawking

Leitkultur? Ja oder nein, deutsch oder europäisch?

Letzten Sommer unternahm ich mit meiner Tochter eine mehrtägige Radtour entlang der Elbe. Sattgrüne Flussauen, hochwassertauglich, hier atmet man noch Insekten ein. Ruhig fließt das schwärzliche Wasser, in dem sich vereinzelte Strudel drehen. Der Weltbetrieb scheinbar Lichtjahre entfernt. Kleine Dörfer mit verfallenden Häusern, überwuchert von verwilderten Gärten, die Natur kehrt zurück. Kein Mensch zeigt sich auf der Straße, und wenn Laute vernehmbar sind, dann kommen sie gedämpft aus einem geöffneten Fenster. Ein Gespräch? Nein, es legt sich Musik darüber, es ist nur der Fernseher, die Sprache entstammt einem fremden Drehbuch. Heimat? Viele scheinen Reißaus genommen zu haben von ihr.

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