„Das Jahr geht still zu Ende“

„Nun sei auch still mein Herz!“ – von klein auf habe ich dieses alte Kirchenlied geliebt, in dem es weiter heißt: „In Gottes treue Hände leg ich nun Freud’ und Schmerz.“ Keines meiner vielen seitdem verbrachten Lebensjahre klang je aus, ohne dass die frommen und betörend schlichten Anfangszeilen dieses Liedes unwillkürlich in meiner Seele neu erwachten. Hier gab es so etwas wie eine stete Quelle der Zuversicht, gespeist aus einem Kindheitsreservoir der Märchen und Gedichte, der milden Töne und Krippenspiele, bei denen selbst diejenigen Engel sein durften, die keine waren und mehr schlecht als recht zu singen wussten. Zu denen gehörte ich! Doch meine flüchtige Existenz als himmlisches Wesen hat eine unverwüstliche Erinnerungsspur in mich gelegt, eine stets heraufdrängende Präsenz der Sanftheit und Güte wenigstens am Jahresende.

Frühe Erlebnisse dieser Art sind wie ein Mantel, der schützend umhüllt, wenn – was heute leider unvermeidlich ist – blinde Konsumwut, wüst blinkende Lichtinstallationen und glühweinselige Managerteams zu nah heranrücken. Dann tritt der Zauber ururalter Bilder und Wörter besänftigend hervor, so dass der sich verdunkelnden Realität hinter den gleißenden Lichtern leidlich standzuhalten ist. Denke ich z. B. an meine bunten Teller mit Pfeffernüssen und Schokotäfelchen in Stanniol, so glaube ich immer noch zu wissen, was man einst unter „Weltlust“ oder „Jauchzerfreude“ verstand. Ja, wenn ich mich entsinne, wie ich damals auf dem alten Perser lag – träumerisch mit einem neuen Steifftier spielend –, dann ist mir sonnenklar, was „Saumseligkeit“ oder „Weltvergessenheit“ bedeuten. Es ist damit die Möglichkeit gemeint, vertrauensvoll und ganz gelöst im gegenwärtigen Moment zu versinken, friedvoll umschlossen vom Wirklichen der Daseinslust gewahr zu werden.

Nun ja, nicht allein die schönen alten Worte sind wie vom Erdboden verschluckt. Die Lage erscheint bei weitem dramatischer. Damit meine ich nicht, dass inzwischen eher Tabletts, Drohnen und interaktive Roboter unter der Biotanne blinken, nein, ich habe vielmehr folgende Gedanken: Aktuell sind um die 30 Millionen Kinder auf der Flucht, unzählige andere verbringen ihre ersten prägenden Lebensjahre in Kriegsgebieten, so dass wir aller Voraussicht nach einen gigantischen unwiederbringlichen Verlust an kindlichem Weltvertrauen zu verzeichnen haben. Kinder sind erfindungsreich, das weiß ich wohl. Doch wie soll sich in all’ dem Grauen auch nur für einige Sekunden jene warme Zuversicht einstellen, die uns später im Leben wie ein silberner Schutzpanzer umhüllen kann? Wie soll ein Kind – egal welcher Religion – auch nur die Ahnung eines mildtätigen, nachsichtigen und liebenden Gottes gewinnen, wenn es seine maßgeblichen Jahre in einem schmutzigen Winkel zerbombter Straßenfluchten verbringt oder in durchweichten, übel riechenden Zeltstätten, die kein Ende zu nehmen scheinen. Die Entwicklungspsychologin Alison Gopnik schreibt: „Man sollte meinen, dass es eine Sache in der Welt gibt, die wir als unzweideutig gut, als ein moralisches Absolutum, den Zweck an sich ansehen: das Glück und die Gesundheit von Kindern. Man sollte meinen, dass jede und jeder ein krankes, unglückliches oder misshandeltes Kind für das schlimmste Übel von allen hält.“ Doch ist das so? Gibt es dieses Moralisch-Fraglose? Weder die verzweifelten Appelle der Ärzte von Aleppo noch die eindringlichen Worte der US-Botschafterin Samantha Power vor den Vereinten Nationen, welche den „kompletten Kollaps der Menschlichkeit“ anprangerten, können verhindern, dass wir eine Generation geschundener Seelen erzeugen. Denn zahllosen Verantwortlichen geht eben auch „die Hinrichtung eines Kindes nicht unter die Haut“. Es gibt zu viele dieser Männer, die wie der russische UN-Vertreter Schurkin umgehend zum Gegenschlag ausholen. Keinen Moment lang erscheint es so, als sei sein Gewissen tangiert worden. Wie ist das möglich? Wie erwerben Menschen die Fähigkeit, ohne jedes Mitgefühl weiter und weiter eine tödliche Maschinerie in Gang zu halten? Gibt es sie tatsächlich immer noch unvermindert, jene gewissenlosen Machtmenschen? Wie tickt ein Putin, ein al-Assad, ein Erdoğan? „Der Ursprung des Hasses ist immer derselbe, er liegt in den frühkindlichen Erlebnissen“, schreibt Arno Grün. – Was also ist geschehen im Leben des kleinen Wladimir, was in dem des tief religiösen Jungen Recep Tayyip oder in dem des doch irgendwann einmal unschuldigen Baschar? Wer vermag es zu sagen? Wie jedes Kind werden sie nach der Liebe und Anerkennung ihrer Eltern gesucht haben. Zu welchem Zeitpunkt verschwand das echte und berührbare Selbst? Wann trat an seine Stelle die Notwendigkeit, sich selbst und andere andauernd davon zu überzeugen, dass man das Gegenteil dessen ist, was man wirklich ist? Auch bei uns gibt es hinreichend Anhänger drakonischer Härte, die – ohne noch Träumer wie Don Quijote zu sein – ein imaginäres Heer vermeintlicher Gegner bekämpfen. Wo sich eine endlose Kolonne trauriger Kinder nähert, erblicken sie nichts als Wirtschaftsschmarotzer, Frauenschänder und gefährliche Islamisten. Sie wollen keinen Schonraum gewähren, den Kindern der Ankömmlinge keinen Ort des Weltvertrauens stiften, einen Ort, wie ihn mein duftend-friedvolles Weihnachtszimmer nur symbolisch zu umschreiben vermag. Doch Kinder benötigen Sicherheit und Schutz. Nur so können sie jene Kraft zum Guten entfalten, die uns Menschen angeboren ist. Wer die Räume einer halbwegs ruhigen Kindheit zerstört, ruiniert die Zukunft selbst. Alle seine Ziele und Ideale werden hinfällig. Zu befürchten ist hingegen: Mit jedem Luftschlag gegen Terroristen dort und mit jeder rigiden Abschottung hier werden mehr Hass und Gewaltbereitschaft hervorgebracht, als je besiegt werden können.

21.12.2016

HEIDEMARIE BENNET-VAHLE