Einschläge der Zeit

Wie ein Wegelagerer lauert es an beschaulichen Orten, springt unverhofft hervor und lässt uns zu Boden gehen: das Älterwerden. Seine Offensive ist jedem gewiss und dennoch bleibt all dies so unvorhersehbar wie eine Liebesgeschichte. Bei mir biss der Zahn der Zeit an ein und demselben Tag gleich zweimal zu: Früh am Morgen erreichte mich die Nachricht vom Tod Leonard Cohens. Ich empfand dies so, als hätte ich einen treuen Jugendgefährten verloren, so als würde unvermutet ein schon weit entrückter Ankerplatz früher Sehnsüchte und Träume  fortgerissen. Wie oft hatten wir Freunde damals – getragen von Cohens monoton-weicher Stimme – den Zauberkreis jener geheimnisvollen Suzanne betreten, die am Flussufer Orangen und Tee aus dem fernen und fremden China offerierte? Wie oft hatten wir die Freiheit eines auf dem Draht hockenden Vogels bedacht, wie oft die gegenläufigen existenziellen Konzepte des auf dem Holzstock lehnenden alten Mannes hier – „you must not ask for so much“ – und einer schönen Frau im dunklen Toreingang dort – „Hey why not ask for more?“ Für uns Nachkriegskinder im muffigen Dauerwellen- und Bügelfaltendeutschland schien hiermit jedenfalls eine ziemlich maßgebliche Alternative angesprochen.

Es ist wohl immer so, dies habe ich inzwischen verstanden: Es gibt eine Atmosphäre der Jugend, die uns bleibend durchtönt, die uns in ein feines Netz vertrauter Bezugspunkte einhüllt, worin wir so lange geborgen sind, bis die frühen Wegbereiter und -begleiter nach und nach diese Erde verlassen. Mit jedem Abschied von einem hoch verehrten Musiker, Dichter oder Denker greift spürbar ein ansteigendes Empfinden der Leere und Verlassenheit Raum. Ein solcher Bewusstseinhauch des Unwiederbringlichen wehte mich schon vor langer Zeit erstmals an. Nie werde ich das Entsetzen in den Augen meines französischen Freundes vergessen, als 1980 Jean Paul Sartre verstarb. Doch weit mehr noch galt dieses schmerzliche Empfinden schon bald den wirklichen Freunden und Verbündeten, deren Dasein viel zu früh versiegte. Waren sie nicht Bürgen jener hoffnungsvollen Jahre, in denen wir das Leben bei den Hörnern packten oder zumindest glaubten, dies bewerkstelligen zu können? Was ereilt uns im Entschwinden so vieler Weggenossen? Ist es jenes kulturelle Altwerden, von dem Jean Améry spricht? Ist es jenes unabwendbare Fremdwerden in der Zeit infolge vergeblicher Bemühungen, aktuelle Erscheinungen beharrlich gemäß den Koordinaten der Vergangenheit situieren zu wollen, oder – mit den Worten Amérys – infolge der Erkenntnis, dass es unmöglich ist „aus dem Individualsystem, dessen Lebensgeruch man mitschleppt durch die Jahre, auszubrechen“? Unabweislich erscheint mir jedenfalls: Wenn man kein junger Mensch mehr ist, wächst die Zeit der Innerlichkeit allmählich an, immerfort steigt im subjektiven Erleben die Bedeutung einer abwesenden Epoche. Der unverbrauchte Mensch aber, der eine noch unabsehbare Lebensspanne vor sich hat, will von Zeit in diesem Sinne nichts wissen. „Jung sein, das ist: den Körper hinauswerfen in die Zeit, die keine Zeit ist, sondern Leben, Welt und Raum.“

Améry, der lange Phasen schwerster Belastung verwinden musste, offenbart aus gutem Grund wenig Optimismus und Zuversicht im Blick auf das Alter. Für ihn steht fest: Genau wie der alternde Körper immer mehr zu träger Masse wird und immer weniger Energie verströmt, so wird auch der Geist „schwerfällig und schwer, von sich selbst, von der Zeit, so dass es sich in steigender Trägheit nicht mehr rühren mag, wenn neue Zeichen ihn herausfordern.“ Nun ja, ich meine, einige Dinge haben sich mittlerweile erheblich gewandelt. Nicht wenigen liegen die düster-resignativen Töne Amérys ganz augenscheinlich fern. Sie streben – oftmals bis zum Wahnhaften – nach immerwährender Schönheit und Jugend. Doch unter den Älteren findet sich ebenso eine Geisteshaltung, die hoffnungsvoll und aufgeschlossen auf Ideen, Projekte und Aktivitäten der Jüngeren blickt. Von mir jedenfalls kann ich sagen: Ich mag zwar den Barden und Poeten meiner Jugend nachtrauern, ich mag bedenkliche Verlassenheitsempfindungen mit ihrem Tod verbinden, zugleich aber bewundere ich in hohem Maße die kreative Phantasie, die viele junge Menschen bei der Suche nach Auswegen aus den Krisen der Gegenwart aufbringen. Wenngleich ich nicht immer mithalten kann, so beeindruckt mich doch die enorme Tatkraft, mit der alternative, sozial verantwortungsvolle Unternehmen gegründet bzw. neue zwischenmenschlich zugewandte und Ressourcen schonende Formen des Miteinanders entwickelt werden, dies gewissermaßen jenseits aller Selbstoptimierungsimperative und gegen eine wachsende Entmündigung durch die Dinge gerichtet. Oft fühle ich mich den jungen Dynamischen mental merklich näher als den Saturierten und Reüssierten meiner eigenen Generation, die nur noch ihre Pfründe verteidigen.

Was die körperliche Seite des Alterungsprozesses angeht, so kann ich Amérys Befunde schwerlich leugnen – trotz Yoga und striktem Bewegungsprogramm. Hier hatte ich am Tag der Nachricht vom Tode Cohens eine zweite Pille zu schlucken. Wie jeden Tag absolvierte ich meine übliche Hunderunde über die Felder und suchte dann – wie gewohnt – mit forschen Bewegungen die Bahndammböschung zu erklimmen. Doch meine Kniegelenke versagten mir ihre bisher stets erwiesenen Dienste – von jetzt auf gleich, und so ist es geblieben. Nun hangele ich mich von Baum zu Strauch den Abhang hoch, noch nicht willens, die gewohnte Route und das vertraute Körperbild aufzugeben. Dennoch weiß ich: Meine Physis erteilt eine Lektion, die ich noch nicht hören will. Welche wäre dies? Im Erschrecken über das Versagen der Glieder und oftmals im Gewahrwerden des eigenen Spiegelbildes werden wir schmerzlich  unserer selbst inne. Zwar erleben wir den alternden, kraftloser werdenden Körper als etwas, was uns angetan und aufgezwungen wird, doch können wir – so belehrt – zugleich damit beginnen, uns peu à peu den Zumutungen des Umfeldes zu entziehen, um uns selbst näher zu kommen. Das junge Gesicht, der gesunde Körper gehören in hohem Maße der Welt. Das ganz bewusste Sich-Fühlen geschieht fast nie im Vollbesitz der Kräfte. Hier zeigt sich ein grundlegendes Paradoxon des menschlichen Seins: Schmerzen, die man nicht anstrebt, gewähren Ichgewinn. Besonders im Älterwerden offenbart sich die seltsame Verklammerung von jähen Momenten der Selbstentfremdung und Impulsen zu hellwacher Selbstwerdung. „Ich bin Ich im Altern durch meinen Körper und gegen ihn: Ich war Ich, als ich jung war, ohne meinen Leib und mit ihm“, schreibt Améry.

12.01.2017

HEIDEMARIE BENNENT-VAHLE